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Sibelius und Deutschland

Yes, I like Germany very much: only Germans like not Sibelius”, sagte der fast 65-jährige Jean Sibelius, als er 1930 dem amerikanischen Journalisten Carleton Smith ein Interview gab. Sibelius spielte die Sympathien der Deutschen herunter und doch lag etwas Wahres in der Aussage.

Sibelius' Jugend war auch von der deutschen Kultur beeinflusst worden. Schon in Hämeenlinna las er deutsche Kompositionsführer und als er nach dem Abitur nach Helsinki umzog, hörte er regelmäßig Aufführungen des heutigen Philharmonischen Orchesters Helsinki, dessen Arbeitssprache Deutsch war, weil in diesem Orchester so viele deutschstämmige Musiker spielten.  

Nachdem erkannt worden war, dass Sibelius die große Hoffnung der finnischen Tonkunst war, wurden ihm Mittel für ein Auslandsstudium zur Verfügung gestellt und er begab sich nach Berlin, um bei Albert Beckers zu studieren. Sibelius erzählte immer wieder, dass ihm sein zweites Studienjahr im Ausland, das er in Wien verbracht hatte, viel besser gefallen hätte. Trotzdem kehrte er nie nach Wien zurück, aber nach Deutschland fuhr er von 1889 bis zu seiner letzten Auslandsreise 1932 insgesamt 41 Mal.

Sibelius' Durchbruchswerk war Kullervo (1892). Bitte noch einmal!”, ermahnte er bei den Proben das Helsinkier Orchester in seinem sehr fließenden Deutsch, und die Aufführung bedeutete – besonders in finnischsprachigen Kulturkreisen – einen großen Durchbruch. Den schwedischsprachigen Kreisen fiel der Zugang zu dem Werk schwer, weil sie sich wunderten, warum ein Komponist, der Schwedisch als Muttersprache hatte, einen finnischen Text in sein Werk aufnahm. Sibelius hatte sich aber schon in Aino, die Tochter von Gouverneur General Alexander Järnefelt, einem Vorkämpfer der finnischen Sprache, verliebt und hoffte, Aino heiraten zu dürfen. Und Janne, wie er in der Familie genannt wurde, hat sie später auch zur Frau bekommen.

Natürlich gehörte auch eine Wagner-Krise zu Sibelius' künstlerischer Entwicklung. Er plante nämlich seine Oper Der Bootsbau (Veneen luominen) ganz im Stil von Wagner. Er überwand die Krise, indem er Tondichtungen für Orchester von Liszt studierte und die Lemminkäinen-Suite (Lemminkäinen-sarja) komponierte. Später in seinem Leben pflegte Sibelius Wagners Verdienst für die Musik herunterzuspielen, ohne jemals zu enthüllen, wie sehr er in seiner Jugend von dessen Musik fasziniert gewesen war.

Bruckner fand er groß, wenn auch naiv. Andere Musikgenies des deutschsprachigen Raums, von Mozart bis Beethoven, waren ihm natürlich lieb, obwohl er Beethoven für keinen großen Orchestrierer hielt, im Gegensatz zu Mozart und Mendelssohn.

Sibelius verfolgte auch die Entwicklung in der neueren deutschen Musik aufmerksam. Den Einfluss von Richard Strauss kann man nicht bestreiten, obwohl Strauss selbst gesagt haben soll: „Ich kann mehr, aber Sibelius ist größer.“ Später wurde Sibelius auch mit den Experimenten von Schönberg bekannt, die er für interessanten musikalischen Kubismus hielt. Erich Wolfgang Korngold war für ihn ein junger Adler und Alban Berg das beste „Werk“ von Schönberg. Alban Berg war ja Schönbergs Schüler.

Sibelius' eigene Musik schaffte schon in den Jahren 1900–1902 einen ersten Durchbruch, zuerst durch die Europa-Tournee des Stadtorchesters Helsinki und später durch Sibelius' eigene Konzertreisen 1901 nach Heidelberg sowie 1902 und 1905 als Dirigent der Berliner Philharmoniker .

Der europäische Norden stand damals in Deutschland hoch im Kurs. Kaiser Wilhelm II. liebte Norwegen, die Polarexpeditionen interessierten die Menschen. Auch in Deutschland war eine Kulturadresse befürwortet worden, die die Bestrebungen Russlands bekämpfen sollte, die Autonomie Finnlands einzuschränken. Die Kritiker erklärten damals, in Sibelius' Musik, „die Stimme des Nordens” zu hören.

Es ist völlig unbegreiflich, dass Sibelius seine Musik bereits 1905 zum letzten Mal in Deutschland dirigierte, obwohl er als Orchesterleiter z. B. in Großbritannien, Italien und in den nordischen Ländern bis tief in die 1920er  Jahre hinein, ja in Helsinki sogar noch 1939 in einer Rundfunksendung auftrat.

Aber vielleicht genügte es. Sibelius dirigierte in einem Konzert der Berliner Philharmoniker Die Sage (En saga, Satu) und die Symphonie Nr. 2. Große Hits in Deutschland waren die Symphonie Nr. 1, Finlandia, Der Schwan von Tuonela (Tuonelan joutsen) und natürlich Valse triste, um nur einige zu erwähnen.

Sibelius' wichtige Verleger Breitkopf & Härtel und Robert Lienau waren natürlich Deutsche, aber Sibelius musste selbst feststellen, dass sein Stern in den 1910er und 1920er Jahren in Großbritannien viel schneller aufging als in Deutschland. In Großbritannien dirigierte Sibelius sogar während fünf verschiedener Reisen.

Sibelius neigte schön langsam auch zur Meinung, dass die Deutschen ihren Teil schon geleistet hätten, und er interessierte sich immer mehr für neue französische und britische Musik. Wuchsen in Großbritannien doch neue Komponisten wie Arnold Bax heran, die deutlich von Sibelius beeinflusst wurden.

Im Laufe der 1920er Jahre verbesserte sich die Situation auch in Deutschland. Der junge Dirigent Otto Klemperer schrieb Sibelius schon im Jahre 1926 und erzählte, er bewundere die Symphonie Nr. 7 ungeheuer. Sibelius selbst schrieb im März 1928 seiner Frau, dass „Mein Konzert unter der Leitung von [Wilhelm] Furtwängler bedeutet mehr als 10 eigene [Kompositionskonzerte].“ Als Furtwängler, Klemperer und zum Beispiel der Italiener Arturo Toscanini nun Sibelius' Musik dirigierten, konnte er seine internationalen Auftritte als Orchesterleiter aufgeben.

In den 1930er Jahren verbreitete sich sein Ruhm über die ganze Welt. 1930 wurde in Großbritannien eine Sibelius-Gesellschaft gegründet, und Robert Kajanus machte 1930 und 1932 seine einmaligen Sibelius-Schallplattenaufnahmen in London. Ein amerikanischer Rundfunksender ließ Sibelius durch seine Zuhörer zum beliebtesten Komponisten der Welt wählen, und anlässlich seines 70. Geburtstags erhielt er Auszeichnungen aus allen Teilen der Welt.

Die Aufführungen nahmen in Deutschland schon während der Weimarer Republik zu, und der Aufstieg Hitlers an die Macht verminderte ihre Anzahl nicht. Sibelius hatte seine letzte Auslandsreise im Jahr 1932 unternommen, so dass er hinsichtlich neuer Begebenheiten auf die Massenmedien angewiesen war. Anfangs las man in Ainola in den Zeitungen, dass es jetzt in Deutschland einen Mann gäbe, der die Kommunisten zu Disziplin und die Deutschen zur Arbeit zwänge. „Kommunisten disziplinieren und den Deutschen Arbeit geben, das klingt ja gut”, sagte Aino Sibelius. Die Familie Sibelius hatte Angst vor dem Kommunismus, nachdem 1918 die roten Garden während des Bürgerkrieges Razzien in Ainola und auch in der Wohnung von Sibelius' Bruder in Helsinki veranstaltet hatten und mit ihren Bajonetten, nach Waffen suchend, das alte Biedermeier-Sofa der Familie aufschlitzten.

Sibelius widersetzte sich dem Kommunismus, war aber von Anfang an auch misstrauisch, was Hitler anbelangte. „Was ist er eigentlich für ein Jesuit, wenn man ihn so anbeten muss?” fragte er gemäß einer Aussage seines Enkels schon Anfang der 1930er Jahre, als man noch keine Ahnung von Hitlers zukünftigen Grausamkeiten haben konnte.

Sibelius wurde schon im Jahr 1934 zum stellvertretenden Vorsitzenden der deutschen Komponistenorganisation „Ständiger Rat“ gewählt, aber er nahm nie an ihren Aktivitäten teil. Später stellte sich heraus, dass die Organisation Propaganda für die Nazis machte. Man kann nicht mit absoluter Sicherheit sagen, ob Sibelius überhaupt wusste, dass er zum stellvertretenden Vorsitzenden der Organisation „Ständiger Rat“ ernannt worden war. Sibelius übernahm an und für sich gern Ehrenämter. Er war z. B. ehrenamtlicher Vorsitzender eines japanischen Schallplattenklubs und eines amerikanischen Fischervereins. Es ist offensichtlich, dass im Jahr 1934 nur die aufgewecktesten Ausländer im Rentneralter ahnen konnten, was die echte Natur der von Richard Strauß geleiteten Organisation war.

Im Jahr 1935 wurde Sibelius 70 Jahre alt und erhielt eine gewaltige Menge von Auszeichnungen aus den Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich, Großbritannien – und auch aus Deutschland. Er erhielt die Goethe-Medaille, deren Verleihungsurkunde Hitler persönlich unterzeichnet hatte. Die Annahme der Goethe-Medaille zu verweigern, wäre damals eine aussergewöhnliche, aber keineswegs einzigartige Leistung gewesen. Man wollte ja Deutschland noch nicht isolieren: Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten nahmen 1936 an den Olympischen Spielen in Berlin teil.

Schon Jahre, teils sogar Jahrzehnte, vor Hitlers Aufstieg war Sibelius den deutschen und französischen Urheberrechtsorganisationen beigetreten, um die Honorare und Tantiemen für die Aufführungen seiner Musik, die ihm rechtsmäßig zustanden, auch zu erhalten. Die Veränderungen in Deutschland zeigten sich in Ainola in der Form, dass die Verbuchung von Einnahmen für Urheberrechte in Deutschland zu stocken begann, weshalb Sibelius der deutschen Urheberrechtsorganisation auch zornige Briefe sandte, die im Nationalarchiv und in der Nationalbibliothek eingesehen werden können. Die Vertreter der Organisation unterzeichneten ihre Schreiben mit dem Heil Hitler–Gruß, Sibelius hingegen antwortete mit der distanzierten Formulierung Mit vorzüglicher Hochachtung.

Im August 1939 schlossen die Diktatoren Stalin und Hitler einen Nichtangriffspakt, in dessen geheimem Zusatzprotokoll geregelt wurde, dass Deutschland in gewissen Teilen Europas freie Hände haben würde und dass die Sowjetunion Lettland, Estland und Finnland ohne Einspruch Deutschlands erobern dürfte.

Die Sowjetunion griff dann Finnland auch an, das zwar im Winterkrieg seine Selbständigkeit verteidigen konnte, aber wesentliche Gebietsabtretungen akzeptieren musste. Zugleich verließen 430 000 Finnen ihre Heimat und zogen in jenen Teil des Landes, der noch das selbständige Finnland repräsentierte. Finnland erhielt sehr viel Sympathie vom Westen, konkrete Hilfe aber nur wenig.

Als Deutschland später militärische Hilfe anbot und die Sowjetunion angriff, wollte Finnland die verlorenen Gebiete und die Heimat der 430 000 geflohenen Finnen im Fortsetzungskrieg zurückerobern. Und weil Deutschland und Finnland jetzt Seite an Seite im Krieg gegen die Sowjetunion kämpften, intensivierten sich auch die kulturellen Kontakte wieder.

Im Frühjahr 1942 notierte der deutsche Propagandaminister Joseph Goebbels, dass die Finnen angefragt hätten, ob er in Deutschland etwas für Sibelius tun könnte. Das Ansuchen war möglicherweise vom finnischen Außenministerium  gestellt worden. Jedenfalls begründete Goebbels eine Sibelius-Gesellschaft in Deutschland, 12 Jahre nach der britischen „Sibelius Society“ und auch deutlich später als die von finnischstämmigen Amerikanern gegründete Sibelius-Gesellschaft. Sibelius schickte seine Tochter Ruth zu den Eröffnungsfestlichkeiten, schrieb einen höflichen Dankesbrief und hielt eine Radiorede auf Deutsch, die auch in Deutschland ausgestrahlt wurde.

Sibelius’ Radiorede an die Deutschen.mp3

Sibelius gewöhnte sich an die Rolle als Interviewter in Ainola, wo er Journalisten aus aller Welt, u. a. auch aus Amerika und Australien empfing. Während des Fortsetzungskrieges interviewte ihn auch einmal ein deutscher SS-Offizier. Sibelius schien sich in erster Linie auf seine Studienjahre zu konzentrieren, als er in denselben Kreisen verkehrte wie Johannes Brahms und Anton Bruckner. Sibelius sagte auch, oder so behauptete jedenfalls der SS-Offizier, dass er den deutschen Waffen einen schnellen Sieg wünschte. Ohne Zweifel wünschte er sich Veränderungen in der Sowjetunion, damit die Russen Finnland nie wieder angreifen würden.

Später im Fortsetzungskrieg dachte Sibelius viel über die Nazis nach und seine Einstellung war verärgert und sarkastisch. „In gewissen Ländern, wie zum Beispiel in Deutschland, ist es notwendig einen Arierparagraphen zu haben, damit man die Begabten loswird“, spottete er am 19. September 1943 in seinem Tagebuch. „Du bist ein Kulturaristokrat und kannst gegen solche dumme Vorurteile kämpfen“, erinnerte er sich selbst. „Diese kindischen Rassenbestimmungen, die totaler Humbug sind!” schrieb er und stellte auch fest, dass das Schicksal Finnlands hart sei, weil es sich auf Brutalität stützen müsse – d.h. auf die Waffen der Nazis – um zu überleben.

Obwohl Sibelius sich privat als Kritiker der Rassenbestimmungen erwies, ärgerte die öffentliche Schmeichelei durch die Nazis sicherlich viele. Und er, wie auch viele andere ausländische Komponisten wurden tatsächlich umschmeichelt und politisiert. Die Nazis versahen sogar den Gesang der Athener (Ateenalaisten laulu) mit einem neuen Text. Aus dem Gesang der Athener wurde die Hymne des Wehrwillens.

Nach dem Krieg konnte Finnland seine Selbständigkeit behalten, allerdings verbunden mit Gebietsabtretungen und harten Friedensbedingungen. Deutschland lag in Trümmern und am Anfang durfte Sibelius in den amerikanischen Besatzungszonen in Deutschland gar nicht gespielt werden, weil die Vereinigten Staaten Angst hatten, dass z. B. Finlandia Stalin ärgern könnte.

Bald fing man an, Deutschland vom „Jahr Null“ aufzubauen und der Modernismus in der Musik fand eine neue Richtung in den „Kursen für Neue Musik Darmstadt“, wo sich auch die neue deutsche Kritikergeneration ausbilden ließ.

Der einflussreiche deutsche Philosoph Theodor W. Adorno hielt dort Vorlesungen und er hatte das im Jahr 1937 veröffentlichte Buch Sibelius von Bengt von Törne gelesen: „A Close Up“-Büchlein, das einen Weltrekord in der Anbetung von Sibelius darstellen mag. Törne war der Meinung, dass Sibelius der größte Komponist seiner Zeit war, viel größer als Gustav Mahler und Arnold Schönberg. Er hatte in Erinnerung, dass Sibelius Mahler unterbewertet hatte.

Adorno war anderer Meinung: Mahler und Schönberg waren gut und Sibelius sehr schlecht. Er veröffentlichte seine Ansichten schon 1938 in der „Zeitschrift für Sozialforschung” unter dem Titel Glosse über Sibelius. Für Adorno war Sibelius ein „Kritzler“ und „auf dem Niveau solcher Amateure, die Angst vor dem Unterricht in Kompositionslehre haben“. Auch Sibelius' Beliebtheit in Amerika ärgerte Adorno sehr, wie auch die Tatsache, dass der Kritiker Olin Downes der „New York Times” beim Loben von Sibelius gern Mahler und Schönberg beschimpfte.

„Wenn Sibelius gut ist, sollen die historisch anerkannten Maßstäbe von Bach bis Schönberg neu gesetzt werden“, verzweifelte Adorno. Er fand, dass das „Deutschtum“ in der Musik „die geeignete Sprache des Humanismus“ sei. Es fiel ihm schwer andere Sprachen zu schätzen

Zusätzlich zur Beschimpfung Sibelius' brachte Adorno die Anhänger von Sibelius auch noch mit der Ideologie der Nationalsozialisten in Verbindung.

„Die Anhänger von Sibelius schreien im Chor: die Musik ist reine Natur, reine Natur. Der große Pan wie auch Blut und Boden treten immer nach Bedarf auf.“

Sibelius' Anhänger wurden also mit der ursprünglich nationalromantischen Ideologie „Blut und Boden“ verbunden, die sich die Nazis angeeignet hatten. In den 1960er Jahren kehrte Adorno in seinen Vorlesungen auf Sibelius „als ein gefährliches Beispiel“ zurück und veröffentlichte in seiner Sammlung Impromptus den oben erwähnten Artikel Glosse über Sibelius erneut.

Sibelius und Deutschland heute

Zur gleichen Zeit bevorzugten deutsche Dirigenten, angefangen von Herbert von Karajan, sehr wohl Sibelius, ebenso das Publikum. Auch die offizielle Seite nahm Sibelius wahr. Im Jahr 1965, als Sibelius' 100. Geburtstag gefeiert wurde, schmeichelten sowohl die BRD als auch die DDR Finnland mit Sibelius-Veranstaltungen, weil jedes Land das neutrale Finnland auf seine Seite ziehen wollte, schreibt die deutsche Forscherin Ruth-Maria Gleissner in ihrer interessanten Dissertation.

Aber im Jahr 1965 musste das Stadtorchester Helsinki zu seiner Überraschung bemerken, dass die Einstellung Sibelius gegenüber durchaus negativ war. Die neue, von Adorno ausgebildete Generation war in den Vordergrund getreten.

Widerstand gegen Sibelius war im Kreis der deutschen Kritiker bis in die 1990er Jahre hinein die Norm, bis dann die bedeutenden Sibelius-Aufführungen und Plattenaufnahmen das Eis brachen. In Österreich kehrte sich diese Tendenz spätestens 2002 um, als das Rundfunkorchester mit dem Dirigenten Jukka-Pekka Saraste Sibelius' Symphonien im Konzerthaus aufführte, und die Wiener Kritiker den Komponisten zu einem „Markstein des Modernismus“ erklärten. Obwohl seine Harmonien traditioneller waren als die bei Schönberg, bemerkten die österreichischen Kritiker die Fortschrittlichkeit und Originalität der Strukturen unter der Oberfläche der Kompositionen.

Ähnliches geschah im Mai 2010 in Berlin, als die Berliner Philharmoniker ihren eigenen Sibelius-Zyklus mit Sir Simon Rattle zum Abschluss brachten.

Im Jahr 2010 ist Sibelius und das Verhältnis zu Deutschland so problemlos, wie selten in der Geschichte – seine Musik findet Zuspruch und Anerkennung sowohl beim deutschen Publikum als auch unter den deutschen Musikkritikern.

In Finnland haben aber ganz andere Schlagzeilen Aufsehen erregt. Dr. Timothy L. Jackson aus Texas hatte den alten Sibelius beschuldigt, Naziverbindungen unterhalten zu haben. Jackson berührte in seinem Artikel The Political Sibelius einige Schmerzpunkte der Geschichte Finnlands auf eine interessante Weise. Er lässt dabei Sibelius' politische Stellungnahmen zu den Streitigkeiten zwischen den liberalen und konservativen Finnen in den 1890er Jahren sowie zu den Streitigkeiten zwischen den finnisch- und schwedischsprachigen Finnen vollkommen außer Acht. Er ignoriert auch die nach dem Februarmanifest 1899 komponierten Protestwerke sowie das Komponieren des Werkes Marsch der Finnischen Jäger (Jääkärien marssi) 1917 und den Widerstand gegen den Kommunismus, der seinen Höhepunkt 1930 in der Unterstützung des antikommunistischen Bauernmarsches erreichte. Der damalige Präsident, Premierminister und General Mannerheim nahm die Bauern in Empfang. Sibelius hatte also in dieser Angelegenheit sehr angesehene Gesellschaft.

Aber alles, wofür sich Jackson interessierte, waren die eventuellen politischen Verbindungen zwischen Sibelius und Deutschland in den Jahren 1933–1945.

Die finnischen Forscher haben ihr Bestes getan, um Jackson beim Sammeln von Material zu helfen, weil dieser die Quellen nicht kennt und weder über Finnisch- noch Schwedischkenntnisse verfügt. Nach langen Diskussionen mit Vesa Sirén verstand Jackson endlich, wie viele Journalisten aus aller Welt Ainola in den Jahren 1933–1945 besuchten. Er hatte nämlich geglaubt, dass das mit dem SS-Offizier geführte Interview eine außergewöhnliche Gunstbezeigung seitens des Eremiten gewesen wäre.

Aber Jackson sollte nicht ignoriert werden, nur weil er auf Grund seiner Unwissenheit einige Fehler machte. Man könnte ja beinahe der ganzen Welt zur Last legen, dass sie es den Nazis erlaubte, so lange und auf so fürchterliche Weise aktiv zu sein. Es zeugt jedoch von augenfälliger Unwissenheit oder aber von einer gewissen Absicht, wenn der alte Sibelius, der nicht mehr ins Ausland reiste und praktisch ab der 1930er Jahre keine neuen Kompositionen mehr veröffentlicht hatte, der an beiden Augen an Star erkrankt war und nur mit Mühe Zeitungen durchblättern konnte, mit dieser Bande in Verbindung gebracht wird.