Sibelius
begann die 1920er Jahre mit dem Komponieren der Kantate Hymne
von der Erde (Maan virsi) für den gemischten Chor „Suomen
Laulu“ und mit der Orchestrierung des Werkes Valse
lyrique.
Er litt an der Erbkrankheit der Familie Sibelius, dem Händezittern,
das sich mit dem Altern verschlimmerte. Um das Notenschreiben zu
erleichtern, versuchte er durch reichlichen Weingenuss das Zittern
zu mildern.
Auch
der in der Presse veröffentlichte Bericht über Sibelius'
Herkunft, der seine Phantasien über seine Ahnen und seine edle
Abstammung zerstörte, verstimmte den Komponisten. Sibelius wusste
gut, dass Aino sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits
adeliger Herkunft war. Er vermeinte in den Brüdern von Aino in
dieser Beziehung Überlegenheitsgefühle bemerkt zu haben und in
ihm hatte sich ein Komplex entwickelt, den der Komponist nur
seinem Tagebuch anvertraute.
Am
16. Februar feierten Sibelius, Eino Leino, Robert Kajanus, Eero Järnefelt,
Pekka Halonen und einige andere Mitglieder der
Kalevalagesellschaft lange und ausgiebig. Im Laufe des Abends
zeigte der Komponist seinen Freunden auf dem Tisch seine
wohlgeformten Zehen und protzte damit, dass in seiner Familie seit
vielen Generationen keine körperliche Arbeit verrichtet worden wäre.
Der stark angeheiterte Eino Leino machte sich über den Komplex
von Sibelius lustig: „Sibelius, du bist eine Rokokogestalt mit
Wurzeln im tawastländischen Bauerntum“, spottete der Dichter.
Ein Handgemenge wurde nur mit Mühe vermieden.
Eino
Leino (1878-1926)
Die
Arbeit kam gut voran: Im Sommer dirigierte Sibelius seine Werke in
mehreren Konzerten auf der ersten Industriemesse Finnlands. Von
den Mitgliedern des Chors hielt zum Beispiel Armi Klemetti
Sibelius für einen Dirigenten, der klarer dirigierte, als Robert
Kajanus, der undeutlicher und „schwimmender“ leitete.
Jean
Sibelius als Dirigent bei der Eröffnung der Industriemesse,
Sommer 1920
Im
Herbst lockte die Welt wieder: die Eastman School of Music in den
Vereinigten Staaten bot ihm eine Professur an und Rosa Newmarch übermittelte
den Wunsch von Henry Wood, Sibelius als Gastdirigenten nach London
zu bekommen. Sibelius stimmte der Einladung von Newmarch zu und
machte sich noch lange Gedanken über das aus den Vereinigten
Staaten erhaltene Angebot.
Am
8. Dezember brachte der Tenor Wäinö Sola anlässlich des 55.
Geburtstags von Sibelius eine Ehrengabe in Höhe von 63 000
Mark, gestiftet „von finnischen Firmen“, nach Ainola. Die
Summe wäre in heutigem Geldwert etwa 19.500 Euro. Schon die
rasende Inflation der Kriegsjahre hatte die Schuldenlast
erleichtert und jetzt wurde sie noch leichter. Einen Teil des
Geldes verschwendete Sibelius allerdings umgehend beim Feiern in
Helsinki.
„Eine
Woche in Helsinki und jetzt fürchterliche Gewissensqualen zu
Hause. Ich verstehe mich selber nicht mehr. Könnte ich diese
Sauferei aufgeben? Dieser Gedanke scheint immer nur ein frommer
Wunsch zu bleiben“, schrieb er am 18. Dezember in sein Tagebuch.
Im
Januar 1921 reiste Sibelius nach Berlin, um mit Breitkopf & Härtel
über eine Inflationskompensation seiner Tantiemen zu verhandeln.
Der Krieg war dem deutschen Verleger so teuer gekommen, dass die
verfügbaren Mittel gering waren und so musste Sibelius in den
1920er Jahren seine größeren Werke an den dänischen Verlag
Hansen und kleinere Werke auch an britische und amerikanische
Verleger verkaufen.
Er
reiste nach Großbritannien weiter. Er war über einen Monat
unterwegs und fand Zeit und Gelegenheit, mehrere Konzerte in
London, Bournemouth, Birmingham und Manchester zu dirigieren. Auf
den Programmen dieser Tournee befanden sich u. a. die Symphonie
Nr. 4 und die Symphonie
Nr. 5, Die Okeaniden (Aallottaret)
und natürlich die alten Hits, wie Finlandia
und Valse
triste.
Sibelius lebte während der Tournee nach Aussage von Rosa Newmarch
„sehr vernünftig“ und dirigierte vortrefflich. Nach dieser
Reise hatte der Komponist kein Bedürfnis mehr auf die Insel zurückzukehren,
um seine Werke selber zu dirigieren: Sie gehörten jetzt ohnehin
in das Programm der Orchester.
Die
Tournee wurde in Norwegen fortgesetzt. Sibelius dirigierte u. a.
die Symphonie Nr. 2 und Valse
triste
und feierte ohne zu schlafen ein paar Tage und Nächte.
Er traf in Kristiania seinen alten Freund, den Schriftsteller Knut
Hamsun, aber die schlaflosen Nächte fingen an zu wirken. „Wir
beide, hol's
der Teufel, spüren allmählich die Schwere der Jahre und wir sind
nicht mehr so vital wie früher“ wunderte sich Sibelius.
Sibelius
dirigierte drei ausverkaufte Konzerte und traf sogar König Haakon.
Die Müdigkeit zeigte Wirkung und Hjalmar Borgström von „Aftonposten“
deutete an, dass Halvorsen und Schnéevoigt die Symphonie Nr. 1
besser aufgeführt hatten. Die Werke an sich – auch Die
Okeaniden (Aallottaret) und sogar Valse
lyrique
– wurden ekstatisch gelobt.
Noch ein Matineekonzert folgte und dann kehrte Sibelius Anfang
April nach Hause zurück.
Nach
seiner Heimkehr musste Sibelius die Galionsfigur der ersten
Nordischen Musiktage, die in Helsinki veranstaltet wurden, geben.
Der norwegische Komponist Sverre Jordan bewunderte den Ruf des
Nationalhelden in Helsinki. „Als wir auf der Straße gingen,
nahmen die Leute den Hut ab, als ob es sich um einen König
gehandelt hätte”. In dem Eröffnungskonzert dirigierte Sibelius
Lemminkäinen zieht heimwärts (Lemminkäinen palaa
kotitienoille) mit Erfolg, aber im letzten Konzert hatte er wegen
seiner Nervosität Schwierigkeiten mit der Symphonie Nr. 5.
Der
Herbst verging in der altgewohnten Wellenbewegung: gelegentlich
Konzerte, zwischendurch Zechgelage, dann wieder Kompositionsarbeit,
wochenlang. Zur selben Zeit verstärkte sich sein Ruf in der Welt:
Herman Scherchen dirigierte die Symphonie Nr. 4 in Leipzig,
Busoni dirigierte die Symphonie Nr. 5 in Berlin vorzüglich
und Leopold Stokowski führte eben dieses Werk in den Vereinigten
Staaten auf.
Anfang
des Jahres 1922 hielt die Wellenbewegung im Leben Sibelius'
an. Im Januar wurde das Werk Valse
chevaleresque
fertig, in dem sich Sibelius' Lotterleben wie in einer
Erkennungsmelodie wiederspiegelte.
Sibelius litt nicht nur des Trinkens wegen an Kopfschmerzen,
sondern auch aus anderen Gründen. Er kaufte sich am 30. Januar
eine Brille bei Nissen. Die wollte er jedoch nicht tragen, wenn er
photographiert wurde.
Am
dritten Mai bekam er zu hören, dass sein Bruder Christian
unheilbar krank war. Das war ein harter Schlag für Sibelius und
es brachte ihm keinen Trost, dass das beinahe ein Jahrzehnt alte
Werk Scaramouche
endlich in Kopenhagen uraufgeführt wurde. Die Kritiker lobten die
„liebliche und eigentümliche“ Musik.
Christian
starb am 2. Juli. „Er war ein wunderbarer Mensch und Bruder“,
schrieb der gebrochene Sibelius in sein Tagebuch.
Im
August 1922 beschloss eine Gruppe einflussreicher finnischer
Personen, die Freimaurerbewegung in Finnland wiederzubeleben. Auch
Sibelius trat in die Bewegung ein und versprach Ritualmusik zu
komponieren. Seine aktivste Freimaurerphase dauerte nur ein gutes
Jahr, aber Sibelius komponierte bedeutungsvolle Ritualmusik für
die Freimaurer und hielt bis zu seinem Tod Kontakt zu der
Organisation.
Im
September 1922 begann die Symphonie Nr. 6, für die
Sibelius schon längere Episoden skizziert hatte, Fortschritte zu
machen. Im Arbeitszimmer in Ainola fing wieder eine hektische
Arbeitsperiode an. Zirka ein halbes Jahr später, im Februar 1923,
wurde das neue Meisterwerk uraufgeführt. Das lyrische und subtile
Werk verwirrte und faszinierte das Publikum und die Kritiker.
„Die Symphonie Nr. 6 ist behutsamer, geringer im Ausmaß
und liebevoller in ihrer Natur. Die Symphonie Nr. 5 ist ein
prachtvolles Spektakel, die sechste das reinste Idyll“, verglich
Evert Katila.
Sibelius
dirigierte im Konzert auch seine allerleichtesten Orchesterwerke
und schwang kokettierend seine Hüften dazu. Valse
chevaleresque,
Suite
champêtre
und Suite
caractéristique
zeigten nach Meinung der Kritiker Einflüsse von Jazz, Shimmy und
Tschaikowski.
Nach
der Uraufführung ging Sibelius mit seiner Gattin auf eine Tournee.
Erst jetzt wagte er in Stockholm zu dirigieren, wo der Kritiker
Wilhelm Peterson-Berger seine Produktion recht schonungslos
kritisiert hatte.
Dieses
Mal lobte er Sibelius als Interpret von Eine Sage (En saga,
Satu), der Suite Der Liebende (Rakastava) und des Werkes Der
Schwan von Tuonela (Tuonelan joutsen), aber das Finale der Symphonie
Nr. 2 hielt er in dieser Aufführung für kraftlos. Ein
anderer Kritiker, William Seymer, schrieb, dass Sibelius das
Orchester zu „Großtaten“ und zum intensivsten Spielen aller
Zeiten entflammte. Aino Sibelius erinnerte sich später daran, wie
die Straße nach dem Konzert voll von Menschen war und die Musiker
begleiteten den Komponisten und riefen „Maestro, Maestro“.
Die
Tournee wurde in Rom fortgesetzt. Sibelius erklärte den
Journalisten, dass der Ursprung seiner Musik nicht in den
finnischen Volksliedern liege. „Ich habe vieles komponiert, das
den Volksmelodien ähnlich ist, aber diese Melodien sind immer aus
meinem eigenen Kopf, oder besser gesagt, aus meinem
leidenschaftlichen finnischen Herzen gekommen. Ich habe aus der
Dichtung meines Vaterlandes und dessen Erzählungen geschöpft und
habe dann auf meine Weise gesungen und meine Seele oft mit dem
Epos Kalevala (Kalevala) bereichert, das eine unendliche
Quelle für einen finnischen unverdorbenen Künstler ist“,
referierte Sibelius.
Sibelius'
Gastspiel erhielt viel Publizität in der römischen Presse, aber
der Komponist war nervös und das Konzert gelang nur mittelmäßig.
„Il Mondo“ kritisierte die Stückwahl für das Programm und
behauptete, dass das Konzert die Zuhörer ermüdet hätte. Nach
der Meinung des Kritikers hätten Eine Sage (En saga, Satu)
und Der Schwan von Tuonela (Tuonelan joutsen) den
Italienern besser gefallen, als Finlandia, Lemminkäinen
zieht heimwärts (Lemminkäinen palaa kotitienoille) und die
Suite Pelléas
und Mélisande.
Die Symphonie Nr. 2 wurde von „Il Mondo“ gelobt, aber
„L'Epoca“ hielt sie nur für ein ziemlich interessantes
musikalisches Mosaik.
Nach
den Konzerten reiste Sibelius mit seiner Gattin für eine Woche
nach Capri. Nach dem Urlaub wurde die Tournee in Schweden, in Göteborg,
fortgesetzt. Das erste Konzert war ein vollkommener Erfolg.
Sibelius dirigierte die Symphonie Nr. 5 und die Symphonie
Nr. 6 sowie Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär). Sogar
die Kritiker gerieten in Ekstase. Und auch Aino schrieb nach einem
gut verlaufenen Abendbankett an ihre Töchter: „Der Papa ist
brillant!“.
Am
nächsten Morgen wurden die Werke Der Liebende (Rakastava),
Die Okeaniden (Aallottaret) und die Symphonie Nr. 2
geprobt. Sibelius ging nach der Probe in die Stadt, um sich zu
entspannen. Er wurde erst nach acht Uhr am Abend in einem
Restaurant gefunden, wo er gerade Austern mit Champagner
hinunterspülte. Der angeheiterte Sibelius wurde in das
Konzerthaus gebracht und er war sogar rechtzeitig auf dem Podium
– aber nach den ersten Eingangstakten klopfte er ab.
Wahrscheinlich dachte er, dass es sich um eine Probe handle.
Seine
Gattin schämte sich. „In meinen Ohren klang alles wie ein fürchterliches
Chaos, ich war wie in Todesangst“, erinnerte sich Aino Sibelius
später. Sibelius konnte sich jedoch zusammennehmen und das
Konzert verlief ohne weitere Störungen. Der Applaus war enorm,
und den Orchestermusikern blieb eine gute Erinnerung an ihn. „Unter
den gegenwärtigen Komponisten, die ein Orchester dirigieren können,
nimmt Jean Sibelius ohne Zweifel einen Ehrenplatz ein“, äußerte
Gustaf Gille. „Zum Beispiel habe ich selten einen so extremen
Nuancenreichtum der Einzelheiten erlebt, wie wenn Jean Sibelius
dirigiert“.
Nach
dem letzten Konzert zerschmetterte Sibelius die Whiskyflasche, die
er in seiner Brusttasche fand, auf den Treppen des Konzerthauses.
Vielleicht beruhigten ihn die positiven Kritiken doch etwas.
Sibelius
dirigierte auch bei seinem Besuch in Wyborg. Er wurde in der Stadt
als Nationalheld behandelt und der Konzertmeister Sulo Aro wusch
sich die Hände lange nicht, nachdem er sie dem „Maestro“
geschüttelt hatte.
Jean
Sibelius reicht dem Orchesterdirigenten Boris Sirpo nach dem
Konzert die Hand, 1923. Sirpo hatte das Programm mit dem Orchester
eingeübt, der Komponist selbst dirigierte es.
Nachdem
Sibelius aus Wyborg zurückgekommen war, konzentrierte er sich auf
das Komponieren der Symphonie Nr. 7. Die Arbeit kam im
Laufe des Herbsts gut voran, aber die vorwurfsvollen Blicke der
Gattin folgten Sibelius immer, wenn er Alkohol trank – auch wenn
er oft nur ein paar Schlückchen nahm, um das Zittern seiner Hände
mitten im Schreibprozess zu stabilisieren. Obwohl in Finnland ein
Prohibitionsgesetz in Kraft war, bekam Sibelius von einem ihm
bekannten Arzt Alkohol als rezeptpflichtiges Medikament. Unter den
Medikamentenquittungen sind solche für Sprit zu finden, aber auch
für Medikamentenkognak und Medikamentenwein, wie auch solche für
Qualitätsmarken, die die Apotheken gelegentlich auftreiben
konnten.
„Mein
Leben ist allerdings am Ende. Wenn ich manchmal fröhlich bin und
ein Glas trinke, muss ich nachher lange daran leiden“, schrieb
Sibelius am 3. Oktober. Einen Monat später war das Leben – so
das Tagebuch – jedoch wieder „reich und tief“. Die Arbeit
machte wieder Spaß und die Stiftung „Kordelin“ verlieh ihm
einen Ehrenpreis im Wert von heute 25 000 Euro.
Jean
Sibelius im Jahr 1923
Sibelius'
Popularität nahm auch in den Vereinigten Staaten schnell zu. Der
Dirigent Pierre Monteux hatte mit der Symphonie Nr. 5 großen
Erfolg in Boston und Paul Cherkassky, der zum Bostoner
Symphonieorchester übergewechselt war, schrieb im selben Jahr an
Robert Kajanus, dass auch die Symphonie Nr. 1 und das von
Paul als Zugabe gespielte Werk Berceuse
dem Publikum gefallen hätten. Cherkassky erwähnte, dass Boston
als nächsten Dirigenten schon Serge Koussevitzky gewählt hätte,
der später einer der großen Interpreten von Sibelius gerade in
Boston wurde.
Den
Anfang des Jahres 1924 widmete Sibelius seiner Symphonie Nr.
7 und dem Alkohol. Er stimulierte sich mit Whisky und nach dem
Zeugnis der Quittungen auch mit Sprit, im Prinzip entsprechend den
Anordnungen des Arztes. „Alkohol um die Nerven und das Gemüt zu
betäuben. Wie unendlich tragisch ist das Schicksal eines
alternden Komponisten. Die Arbeit verläuft nicht mehr im gleichen
Tempo wie früher und die Selbstkritik steigt ins Unmögliche“,
schrieb er am 6. Januar in sein Tagebuch.
Aino
Sibelius erinnerte sich an die schwierigen Zeiten, als ihr Gatte während
der Jahre 1903–1904 sich am Rande des Alkoholismus befand.
Anfang 1924 waren alle Warnungen umsonst. Letzten Endes schrieb
Aino ihm ein Brieflein, in dem sie sich weigerte ihrem Mann auf
die Konzertreisen zu folgen, weil sie es nicht ertragen könnte,
ihn im betrunkenen Zustand dirigieren zu sehen. Sie konnte auch
Kompositionsarbeit mit „künstlicher Inspiration“, d. h. mit
Hilfe von Alkohol, nicht verstehen.
„Wenn
du dich nicht änderst, bist du dem Untergang geweiht“, schrieb
Aino. „Du musst versuchen, von dem loszukommen, was dich da nach
unten zieht. Hast du nicht bemerkt, wohin dieser Weg führt. Auch
wenn du irgendeine Komposition fertig bekommst, ist sie nicht das,
was sie sein könnte“.
Obwohl
der Ausbruch berechtigt war, hatte Aino Sibelius nur teilweise
recht. Sibelius war fähig, eine Komposition fertig zu bekommen,
die der Höhepunkt seiner Komponistenkarriere war. Die Symphonie
Nr. 7 wurde im März fertiggestellt und Alkohol hatte
anscheinend seine Hände so stabilisiert, dass er in der Lage war,
das Werk auf Notenpapier zu schreiben. Die eigentliche Kopfarbeit
hatte natürlich, dem Endergebnis nach, ohne Alkohol stattgefunden.
Sibelius
dirigierte Ende März die Uraufführung seiner Symphonie, die
damals noch Fantasia
sinfonica I
hieß, in Stockholm.
Eisgang auf der Ostsee verzögerte die Überfahrt, so dass im
ersten Konzert das Violinconcerto ohne Proben aufgeführt werden
musste.
Julius Rutström war Solist, und die schwierige Situation
verursachte Sibelius später noch Alpträume. Die Uraufführung
der Symphonie kam dennoch sehr gut an.
Im
Sommer lernte Sibelius den Freund und späteren Ehemann von
Margareta, Jussi Blomstedt (später Jalas) und den Pianisten
Martti Similä kennen. Beide entwickelten sich zu Dirigenten und
sie wurden Sibelius'
musikalische Vertrauenspersonen. Er konnte jetzt in die autoritäre
Rolle eines alten Komponisten schlüpfen, die er in den kommenden
Jahrzehnten zu einer vollkommenen Mischung von Autorität und
warmherziger Gastfreundlichkeit weiterentwickelte.
Im
August 1924 hörte Sibelius vom Tod des Ferruccio Busoni. Als
Gegengewicht zu der traurigen Nachricht durfte er am 30. August
die Hochzeit seiner Tochter feiern; die 21-jährige Katarina
heiratete den 37-jährigen Juristen Eero Ilves. Er machte Karriere
als Bankmanager und kümmerte sich bis in die 1940er Jahre auch um
Sibelius' Geld- und Steuersachen. „Die Hochzeit von Kaj war
wunderschön. Alle zufrieden“, schrieb Sibelius am 5. September
in sein Tagebuch. In diesen Tagen wurde Heidi in Helsinki
eingeschult, so dass von nun an keine der Töchter wochentags in
Ainola wohnte.
Sibelius
reiste am 23. September allein nach Kopenhagen, um seine Werke zu
dirigieren. Vom Hotel d'Angleterre schrieb er zärtliche
Liebesbriefe an seine Frau, die nicht mehr bereit war, auf die
Tourneen mitzufahren. Die Briefe an Adolf Paul klangen anders. „Ich
brauche viel Geld. Hier in Kopenhagen trinke ich ausschließlich
Champagner“, teilte Sibelius mit. Er traf nach einem Konzert
Mitglieder des dänischen Königshauses und erhielt vom
Ritterorden „Dannebrog“ das Komturkreuz erster Klasse.
Die
Fantasia sinfonica I
kam gut an und die Kritiken waren respektvoll. Der zufriedene
Sibelius fuhr nach Malmö und gab weitere Konzerte in Kopenhagen.
Er füllte den Saal in insgesamt fünf Konzerten, womit er nach
der Zeitung „Politiken“ „alle Rekorde übertraf“.
Die
Anstrengungen des hektischen Lebens belasteten sein Herz. „Ich
muss das Dirigieren aufgeben, denn um meine Nerven zu beruhigen,
muss ich heutzutage übertreiben, was auch der Arzt sehr gut
wusste“, schrieb er am 9. Oktober an Aino.
Der
Rest des Jahres verging mit dem Komponieren kleinerer Stücke und
mit dem Erneuern seiner Wechsel. Schenkt man seinem Tagebuch
Glauben, war Alkohol jetzt Sibelius'
einziger Freund.
Anfang
des Jahres 1925 fuhr Sibelius oft in die Restaurants nach
Helsinki, denn die Arbeiten kamen nicht recht voran. Sibelius
lebte in einer Krisenphase, aber die Tiefe der Krise sollte nicht
dramatisiert werden. Seine Lebensweise stand auf einer gesünderen
Basis als die des Dichters Eino Leino, der in der Nachbarschaft
wohnte und der sich an den Rand des Abgrunds gesoffen hatte und
der schon ein Jahr später starb. Sibelius'
Leben in Ainola hielt sich hauptsächlich dank der Gattin und des
Familienlebens auf gesundem Boden. So ein Stütznetz hatte der
finnische Nationaldichter Eino Leino nicht.
Im
Mai nahmen der Verleger Wilhelm Hansen und das dänische königliche
Theater abwechselnd in derselben Angelegenheit Kontakt zu Sibelius
auf. Sibelius sollte das Theaterstück Der Sturm (Myrsky,
Stormen) vertonen. Dieser Auftrag entflammte die Phantasie des
Komponisten und er nahm seine letzte und größte Bühnenmusik in
Angriff. Die fieberhafte Arbeitsperiode endete mit Herbstanfang,
aber die Premiere des Theaterstücks Der Sturm (Myrsky,
Stormen) wurde auf März 1926 verschoben und der Komponist
bemerkte, dass er sich umsonst abgehetzt hatte.
Ende
des Jahres komponierte Sibelius Bagatellen und war wegen der
Feiern zu seinem sechzigsten Geburtstag nervös, die sich zu einem
nationalen Festtag gestalteten. Sibelius selber versuchte den
Feierlichkeiten zu entkommen. Er feierte seinen Geburtstag zu
Hause bei seiner Tochter Eva Paloheimo in Helsinki und lehnte alle
öffentlichen Auftritte ab.
Die
Geburtstagsgeschenke halfen Sibelius, seinen wirtschaftlichen
Engpass endgültig zu überwinden. Eine landesweite öffentliche
Sammlung erbrachte die enorme Summe von 275 000 Mark, d. h.
über 65 000 Gegenwartseuro, von welcher dem Komponisten über
die Hälfte zur freien Disposition zur Verfügung gestellt wurde.
Seine Künstlerrente wurde von 30 000 auf 100 000
seinerzeitige Mark, auf etwa 24 000 Gegenwartseuro, pro Jahr
erhöht. Ein nicht unbedeutendes Geburtstagsgeschenk war auch die
Erweiterung des Grundstücks von Ainola um beinahe ein Hektar. Für
dieses Geschenk zeichneten die gemischten Chöre Finnlands
verantwortlich.
Auch
der Urheberrechtsschutz hatte sich weiter entwickelt und Sibelius
hatte angefangen, von der deutschen Urheberrechtsorganisation GEMA
jährlich schon passable Tantiemen für die Aufführung seiner
Werke zu bekommen. Nachdem die Inflation auch noch einen großen
Teil der alten Schulden erledigt hatte, verbesserte sich die
finanzielle Lage des Komponisten wesentlich.
Jubiläumskonzerte
wurden rund um die Welt veranstaltet. Zum Beispiel dirigierte
Leopold Stokowski in einem Konzert des Philadelphia Orchesters in
New York die Symphonie Nr. 1. Olin Downes von „New York
Times“ war begeistert von dem finnischen Komponisten und hielt
in seinem langen Bericht die Orchester an, mehr
Musik von Sibelius zu spielen.
Anfang
des Jahres 1926 gab der Dirigent Walter Damrosch aus New York
Sibelius eine 15–20 Minuten lange symphonische Dichtung in
Auftrag. Sibelius stimmte zu und nahm die Kompositionsarbeiten zum
Werk Tapiola
in Angriff.
Sibelius entschied sich Ende März unter Zuhilfenahme der
Geburtstagsspenden allein nach Rom zu reisen, um Tapiola
fertig zu komponieren.
Jean
Sibelius in Capri, 1926
Neben
den Arbeiten machte er zusammen mit seinem Freund Walter von Konow
auch Urlaub in Capri. Er bekam Tapiola gut in Griff und der
zufriedene Komponist kehrte nach Hause zurück, um seine Arbeit
fortzusetzen und gleichzeitig die Renovierung von Ainola zu überwachen.
Im Sommer wurde zum Beispiel die Sauna erneuert und das Tor wurde
auf die neue Grenze des erweiterten Grundstücks versetzt, wo es
heute noch steht. Endlich überstieg der Eigentumswert die
Schulden, so dass das Ehepaar einen Grund hatte, ein gegenseitiges
Testament aufzusetzen. Das Testament wurde am 19. Juli bestätigt.
Im
Sommer vollendete Sibelius Wäinämöinens Gesang (Väinön
virsi) für das Sängerfest in Sortavala. Sibelius fluchte in
seinem Tagebuch auf die „Auftragsarbeiten“, aber vollendete im
Lauf des Herbstes auch Tapiola.
Allerdings
zog er das vollendete Werk noch zur Korrektur zurück, was den
Verleger ärgerte. Sogar die Druckplatten mussten erneuert werden.
Im
Herbst 1926 trat Sibelius zum letzten Mal als Dirigent außerhalb
Finnlands auf. Er dirigierte wieder in Kopenhagen, aber die
Aufnahme der Symphonie Nr. 5 war ziemlich lahm und er war
zutiefst beleidigt. Finlandia
sowie Valse
triste
am Ende des Konzerts bezauberten jedoch das Publikum. Die
Rezensionen waren hautsächlich wohlwollend und nach der Heimkehr
machte Sibelius schnell die letzten Korrekturen im Manuskript von Tapiola.
Damrosch erhielt die Partitur im November, so dass er vor der
Uraufführung des Werkes ausreichend Zeit hatte.
Am
2. Dezember nahm Sibelius an den Feiern zum 70. Geburtstag von
Robert Kajanus teil. Die Drei aus dem Kern des Symposion-Zirkels
wunderten sich über ihre durchfurchten Gesichter und über den
Haarausfall. Gallen-Kallela und Kajanus gedachten in ihren
Festreden nostalgisch ihres Lebens in den 1890er Jahren.
Der
70-jährige Robert Kajanus hält seine Geburtstagsrede. Dezember
1926.
Am
Jahresende freute Sibelius sich über die guten Rezensionen seiner
Werke in Zeitungen in London und Boston. Am Stephanitag kam
allerdings ein kleiner Rückschlag, als Damrosch Tapiola
in New
York uraufführte.
Sogar der eifrige Sibelius-Anhänger Olin Downes von der „New
York Times“ war verwundert, obgleich er das Werk anerkennend
rezensierte. Noch weniger verstand Lawrence Gilman von „New York
Herald Tribune” das Werk Tapiola.
Anfang
1927 vollendete Sibelius endlich die schon längst versprochene
Ritualmusik für die Freimaurer. Die Uraufführung war am 12.
Januar. Sibelius händigte der Loge Finnlands das Manuskript zur
internen Verwendung aus und auch andere Logen in Finnland waren
berechtigt, die Musik in ihren Sitzungen zu benutzen. Die
Ritualmusik bestand zu dieser Zeit aus acht Teilen und der
Komponist vervollständigte sie später.
Ende
Januar reiste Sibelius mit Aino nach Paris, um neueste Musik zu hören.
Auch die letzten Schulden waren jetzt abbezahlt, so dass der
Komponist zum ersten Mal reisen konnte, ohne sich Sorgen um die
Schuldenlast machen zu müssen. „Jetzt ist finanziell alles in
Ordnung und ich kann mich konzentrieren, worauf ich will. Ist das
nicht herrlich”, schrieb der Komponist.
Nach
der Reise nach Paris „vergrub“ sich der Komponist in Ainola
und die Gattin warf ihm vor, dass er keinen Kontakt zu seinen
Freunden pflegte. „Die Einsamkeit macht mich wahnsinnig.
Nicht einmal meine Frau spricht jetzt mit mir“, schrieb
Sibelius etwas unberechtigt in sein Tagebuch. „Um überhaupt
leben zu können, muss ich Alkohol einnehmen. Wein oder Whisky!
Daher jetzt dies alles. Beschimpft, einsam, alle meine wirklichen
Freunde sind tot. Unfähig zu arbeiten. Wenn ich nur eine Lösung
finden könnte“, schrieb er am 8. Mai pathetisch in sein
Tagebuch. Nur zwei Tage später spielte er dennoch vierhändig
Klavier mit seiner Frau und arbeitete mit viel Elan an den
Orchestersuiten der Bühnenmusik Der Sturm (Myrsky,
Stormen)!
Aino hatte es nicht leicht mit den stark schwankenden Gemütslagen
ihres Gatten. „Der Papa hatte so eine Natur, dass er sich ganz
plötzlich beruhigte“, erinnerte sich Margareta später.
Im
Sommer 1927 stellte Sibelius die Orchestersuiten der Bühnenmusik Der
Sturm (Myrsky, Stormen) etwas lustlos fertig. „Die Suiten
der Bühnenmusik plagen mich noch zu Tode. Es fühlt sich an, wie
Hausaufgaben noch einmal machen zu müssen“, schrieb Sibelius am
17. Mai.
Im
Sommer schrieb Sibelius auch die erschütterndsten Seiten seines
Tagebuchs. Die Aufzeichnungen waren kurz und ihre Bedeutung war
eindeutig: Sibelius hatte beschlossen, Alkohol aus seinen
Eingeweiden zu verscheuchen. Er stand am Rande des Alkoholismus
und jeder Tag war ein Kampf gegen den gefährlichen Stoff. Die
Aufzeichnungen S. A. (sine alcohol = ohne Alkohol) in seinem
Tagebuch sind gelegentlich durch Einträge wie „ein Whisky“
oder „Sauferei, den ganzen Tag“ unterbrochen.
Auszug
aus dem Tagebuch, Juni 1927
Während
des Sommers endete der Kampf jedoch mit einem ausreichend
deutlichen Sieg. Sibelius fing nicht an, abstinent zu leben, aber
es gelang ihm, seine Trinkgewohnheiten bedeutend zu verbessern und
damit seine Gesundheit zu retten. Am 22. Juni konnte er
feststellen: „Mein Alkoholkonsum ist sehr moderat“ und im
August schickte er eine zweite Suite der Bühnenmusik Der Sturm
(Myrsky, Stormen) an Hansen. So hatte er das letzte bedeutende
neue Orchesterwerk fertig bekommen, das er jemals an einen
Verleger schicken konnte.
Es
ist interessant, dass das finnische Parlament Anfang desselben
Monats August einem neuen Urheberrecht zustimmte, durch das auch
immaterielle Güter besser geschützt waren. Nachdem das geschehen
war, konnte Finnland 1928 auch den Berner Vertrag ratifizieren. So
konnte auch Sibelius wirksamer als früher Urheberrechtsvergütungen
für die Aufführung seiner Werke bekommen. Hiermit begann eine
Entwicklung, die aus ihm einen wohlhabenden Mann machte. Zugleich
war er nicht mehr in der Lage, solche Großwerke zu komponieren,
die man an Verleger hätte schicken können. Böse Zungen könnten
behaupten, dass finanzieller Druck dem Komponisten zu neuen
Meisterwerken verholfen hätte.
Anfang
September 1927 konnte Sibelius diese Entwicklung natürlich noch
nicht ahnen. Er war schon am Planen eines neuen Werkes,
wahrscheinlich der Symphonie
Nr. 8.