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Die letzten Meisterwerke 1920-1927

Sibelius begann die 1920er Jahre mit dem Komponieren der Kantate Hymne von der Erde (Maan virsi) für den gemischten Chor „Suomen Laulu“ und mit der Orchestrierung des Werkes Valse lyrique. Er litt an der Erbkrankheit der Familie Sibelius, dem Händezittern, das sich mit dem Altern verschlimmerte. Um das Notenschreiben zu erleichtern, versuchte er durch reichlichen Weingenuss das Zittern zu mildern.

Auch der in der Presse veröffentlichte Bericht über Sibelius' Herkunft, der seine Phantasien über seine Ahnen und seine edle Abstammung zerstörte, verstimmte den Komponisten. Sibelius wusste gut, dass Aino sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits adeliger Herkunft war. Er vermeinte in den Brüdern von Aino in dieser Beziehung Überlegenheitsgefühle bemerkt zu haben und in ihm hatte sich ein Komplex entwickelt, den der Komponist nur seinem Tagebuch anvertraute.

Am 16. Februar feierten Sibelius, Eino Leino, Robert Kajanus, Eero Järnefelt, Pekka Halonen und einige andere Mitglieder der Kalevalagesellschaft lange und ausgiebig. Im Laufe des Abends zeigte der Komponist seinen Freunden auf dem Tisch seine wohlgeformten Zehen und protzte damit, dass in seiner Familie seit vielen Generationen keine körperliche Arbeit verrichtet worden wäre. Der stark angeheiterte Eino Leino machte sich über den Komplex von Sibelius lustig: „Sibelius, du bist eine Rokokogestalt mit Wurzeln im tawastländischen Bauerntum“, spottete der Dichter. Ein Handgemenge wurde nur mit Mühe vermieden.



Eino Leino (1878-1926)

Die Arbeit kam gut voran: Im Sommer dirigierte Sibelius seine Werke in mehreren Konzerten auf der ersten Industriemesse Finnlands. Von den Mitgliedern des Chors hielt zum Beispiel Armi Klemetti Sibelius für einen Dirigenten, der klarer dirigierte, als Robert Kajanus, der undeutlicher und „schwimmender“ leitete.

Jean Sibelius als Dirigent bei der Eröffnung der Industriemesse, Sommer 1920

Im Herbst lockte die Welt wieder: die Eastman School of Music in den Vereinigten Staaten bot ihm eine Professur an und Rosa Newmarch übermittelte den Wunsch von Henry Wood, Sibelius als Gastdirigenten nach London zu bekommen. Sibelius stimmte der Einladung von Newmarch zu und machte sich noch lange Gedanken über das aus den Vereinigten Staaten erhaltene Angebot.

Am 8. Dezember brachte der Tenor Wäinö Sola anlässlich des 55. Geburtstags von Sibelius eine Ehrengabe in Höhe von 63 000 Mark, gestiftet „von finnischen Firmen“, nach Ainola. Die Summe wäre in heutigem Geldwert etwa 19.500 Euro. Schon die rasende Inflation der Kriegsjahre hatte die Schuldenlast erleichtert und jetzt wurde sie noch leichter. Einen Teil des Geldes verschwendete Sibelius allerdings umgehend beim Feiern in Helsinki.

„Eine Woche in Helsinki und jetzt fürchterliche Gewissensqualen zu Hause. Ich verstehe mich selber nicht mehr. Könnte ich diese Sauferei aufgeben? Dieser Gedanke scheint immer nur ein frommer Wunsch zu bleiben“, schrieb er am 18. Dezember in sein Tagebuch.

Im Januar 1921 reiste Sibelius nach Berlin, um mit Breitkopf & Härtel über eine Inflationskompensation seiner Tantiemen zu verhandeln. Der Krieg war dem deutschen Verleger so teuer gekommen, dass die verfügbaren Mittel gering waren und so musste Sibelius in den 1920er Jahren seine größeren Werke an den dänischen Verlag Hansen und kleinere Werke auch an britische und amerikanische Verleger verkaufen.

Er reiste nach Großbritannien weiter. Er war über einen Monat unterwegs und fand Zeit und Gelegenheit, mehrere Konzerte in London, Bournemouth, Birmingham und Manchester zu dirigieren. Auf den Programmen dieser Tournee befanden sich u. a. die Symphonie Nr. 4 und die Symphonie Nr. 5, Die Okeaniden (Aallottaret) und natürlich die alten Hits, wie Finlandia und Valse triste. Sibelius lebte während der Tournee nach Aussage von Rosa Newmarch „sehr vernünftig“ und dirigierte vortrefflich. Nach dieser Reise hatte der Komponist kein Bedürfnis mehr auf die Insel zurückzukehren, um seine Werke selber zu dirigieren: Sie gehörten jetzt ohnehin in das Programm der Orchester.

Die Tournee wurde in Norwegen fortgesetzt. Sibelius dirigierte u. a. die Symphonie Nr. 2 und Valse triste und feierte ohne zu schlafen ein paar Tage und Nächte. Er traf in Kristiania seinen alten Freund, den Schriftsteller Knut Hamsun, aber die schlaflosen Nächte fingen an zu wirken. „Wir beide, hol's der Teufel, spüren allmählich die Schwere der Jahre und wir sind nicht mehr so vital wie früher“ wunderte sich Sibelius.

Sibelius dirigierte drei ausverkaufte Konzerte und traf sogar König Haakon. Die Müdigkeit zeigte Wirkung und Hjalmar Borgström von „Aftonposten“ deutete an, dass Halvorsen und Schnéevoigt die Symphonie Nr. 1 besser aufgeführt hatten. Die Werke an sich – auch Die Okeaniden (Aallottaret) und sogar Valse lyrique – wurden ekstatisch gelobt. Noch ein Matineekonzert folgte und dann kehrte Sibelius Anfang April nach Hause zurück.

Nach seiner Heimkehr musste Sibelius die Galionsfigur der ersten Nordischen Musiktage, die in Helsinki veranstaltet wurden, geben. Der norwegische Komponist Sverre Jordan bewunderte den Ruf des Nationalhelden in Helsinki. „Als wir auf der Straße gingen, nahmen die Leute den Hut ab, als ob es sich um einen König gehandelt hätte”. In dem Eröffnungskonzert dirigierte Sibelius Lemminkäinen zieht heimwärts (Lemminkäinen palaa kotitienoille) mit Erfolg, aber im letzten Konzert hatte er wegen seiner Nervosität Schwierigkeiten mit der Symphonie Nr. 5.

Der Herbst verging in der altgewohnten Wellenbewegung: gelegentlich Konzerte, zwischendurch Zechgelage, dann wieder Kompositionsarbeit, wochenlang. Zur selben Zeit verstärkte sich sein Ruf in der Welt: Herman Scherchen dirigierte die Symphonie Nr. 4 in Leipzig, Busoni dirigierte die Symphonie Nr. 5 in Berlin vorzüglich und Leopold Stokowski führte eben dieses Werk in den Vereinigten Staaten auf.

Anfang des Jahres 1922 hielt die Wellenbewegung im Leben Sibelius' an. Im Januar wurde das Werk Valse chevaleresque fertig, in dem sich Sibelius' Lotterleben wie in einer Erkennungsmelodie wiederspiegelte. Sibelius litt nicht nur des Trinkens wegen an Kopfschmerzen, sondern auch aus anderen Gründen. Er kaufte sich am 30. Januar eine Brille bei Nissen. Die wollte er jedoch nicht tragen, wenn er photographiert wurde.

Am dritten Mai bekam er zu hören, dass sein Bruder Christian unheilbar krank war. Das war ein harter Schlag für Sibelius und es brachte ihm keinen Trost, dass das beinahe ein Jahrzehnt alte Werk Scaramouche endlich in Kopenhagen uraufgeführt wurde. Die Kritiker lobten die „liebliche und eigentümliche“ Musik.

Christian starb am 2. Juli. „Er war ein wunderbarer Mensch und Bruder“, schrieb der gebrochene Sibelius in sein Tagebuch.

Im August 1922 beschloss eine Gruppe einflussreicher finnischer Personen, die Freimaurerbewegung in Finnland wiederzubeleben. Auch Sibelius trat in die Bewegung ein und versprach Ritualmusik zu komponieren. Seine aktivste Freimaurerphase dauerte nur ein gutes Jahr, aber Sibelius komponierte bedeutungsvolle Ritualmusik für die Freimaurer und hielt bis zu seinem Tod Kontakt zu der Organisation.

Im September 1922 begann die Symphonie Nr. 6, für die Sibelius schon längere Episoden skizziert hatte, Fortschritte zu machen. Im Arbeitszimmer in Ainola fing wieder eine hektische Arbeitsperiode an. Zirka ein halbes Jahr später, im Februar 1923, wurde das neue Meisterwerk uraufgeführt. Das lyrische und subtile Werk verwirrte und faszinierte das Publikum und die Kritiker. „Die Symphonie Nr. 6 ist behutsamer, geringer im Ausmaß und liebevoller in ihrer Natur. Die Symphonie Nr. 5 ist ein prachtvolles Spektakel, die sechste das reinste Idyll“, verglich Evert Katila.

Sibelius dirigierte im Konzert auch seine allerleichtesten Orchesterwerke und schwang kokettierend seine Hüften dazu. Valse chevaleresque, Suite champêtre und Suite caractéristique zeigten nach Meinung der Kritiker Einflüsse von Jazz, Shimmy und Tschaikowski.

Nach der Uraufführung ging Sibelius mit seiner Gattin auf eine Tournee. Erst jetzt wagte er in Stockholm zu dirigieren, wo der Kritiker Wilhelm Peterson-Berger seine Produktion recht schonungslos kritisiert hatte.

Dieses Mal lobte er Sibelius als Interpret von Eine Sage (En saga, Satu), der Suite Der Liebende (Rakastava) und des Werkes Der Schwan von Tuonela (Tuonelan joutsen), aber das Finale der Symphonie Nr. 2 hielt er in dieser Aufführung für kraftlos. Ein anderer Kritiker, William Seymer, schrieb, dass Sibelius das Orchester zu „Großtaten“ und zum intensivsten Spielen aller Zeiten entflammte. Aino Sibelius erinnerte sich später daran, wie die Straße nach dem Konzert voll von Menschen war und die Musiker begleiteten den Komponisten und riefen „Maestro, Maestro“.

Die Tournee wurde in Rom fortgesetzt. Sibelius erklärte den Journalisten, dass der Ursprung seiner Musik nicht in den finnischen Volksliedern liege. „Ich habe vieles komponiert, das den Volksmelodien ähnlich ist, aber diese Melodien sind immer aus meinem eigenen Kopf, oder besser gesagt, aus meinem leidenschaftlichen finnischen Herzen gekommen. Ich habe aus der Dichtung meines Vaterlandes und dessen Erzählungen geschöpft und habe dann auf meine Weise gesungen und meine Seele oft mit dem Epos Kalevala (Kalevala) bereichert, das eine unendliche Quelle für einen finnischen unverdorbenen Künstler ist“, referierte Sibelius.

Sibelius' Gastspiel erhielt viel Publizität in der römischen Presse, aber der Komponist war nervös und das Konzert gelang nur mittelmäßig. „Il Mondo“ kritisierte die Stückwahl für das Programm und behauptete, dass das Konzert die Zuhörer ermüdet hätte. Nach der Meinung des Kritikers hätten Eine Sage (En saga, Satu) und Der Schwan von Tuonela (Tuonelan joutsen) den Italienern besser gefallen, als Finlandia, Lemminkäinen zieht heimwärts (Lemminkäinen palaa kotitienoille) und die Suite Pelléas und Mélisande. Die Symphonie Nr. 2 wurde von „Il Mondo“ gelobt, aber „L'Epoca“ hielt sie nur für ein ziemlich interessantes musikalisches Mosaik.

Nach den Konzerten reiste Sibelius mit seiner Gattin für eine Woche nach Capri. Nach dem Urlaub wurde die Tournee in Schweden, in Göteborg, fortgesetzt. Das erste Konzert war ein vollkommener Erfolg. Sibelius dirigierte die Symphonie Nr. 5 und die Symphonie Nr. 6 sowie Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär). Sogar die Kritiker gerieten in Ekstase. Und auch Aino schrieb nach einem gut verlaufenen Abendbankett an ihre Töchter: „Der Papa ist brillant!“.

Am nächsten Morgen wurden die Werke Der Liebende (Rakastava), Die Okeaniden (Aallottaret) und die Symphonie Nr. 2 geprobt. Sibelius ging nach der Probe in die Stadt, um sich zu entspannen. Er wurde erst nach acht Uhr am Abend in einem Restaurant gefunden, wo er gerade Austern mit Champagner hinunterspülte. Der angeheiterte Sibelius wurde in das Konzerthaus gebracht und er war sogar rechtzeitig auf dem Podium – aber nach den ersten Eingangstakten klopfte er ab. Wahrscheinlich dachte er, dass es sich um eine Probe handle.

Seine Gattin schämte sich. „In meinen Ohren klang alles wie ein fürchterliches Chaos, ich war wie in Todesangst“, erinnerte sich Aino Sibelius später. Sibelius konnte sich jedoch zusammennehmen und das Konzert verlief ohne weitere Störungen. Der Applaus war enorm, und den Orchestermusikern blieb eine gute Erinnerung an ihn. „Unter den gegenwärtigen Komponisten, die ein Orchester dirigieren können, nimmt Jean Sibelius ohne Zweifel einen Ehrenplatz ein“, äußerte Gustaf Gille. „Zum Beispiel habe ich selten einen so extremen Nuancenreichtum der Einzelheiten erlebt, wie wenn Jean Sibelius dirigiert“.

Nach dem letzten Konzert zerschmetterte Sibelius die Whiskyflasche, die er in seiner Brusttasche fand, auf den Treppen des Konzerthauses. Vielleicht beruhigten ihn die positiven Kritiken doch etwas.

Sibelius dirigierte auch bei seinem Besuch in Wyborg. Er wurde in der Stadt als Nationalheld behandelt und der Konzertmeister Sulo Aro wusch sich die Hände lange nicht, nachdem er sie dem „Maestro“ geschüttelt hatte.

Jean Sibelius reicht dem Orchesterdirigenten Boris Sirpo nach dem Konzert die Hand, 1923. Sirpo hatte das Programm mit dem Orchester eingeübt, der Komponist selbst dirigierte es.

Nachdem Sibelius aus Wyborg zurückgekommen war, konzentrierte er sich auf das Komponieren der Symphonie Nr. 7. Die Arbeit kam im Laufe des Herbsts gut voran, aber die vorwurfsvollen Blicke der Gattin folgten Sibelius immer, wenn er Alkohol trank – auch wenn er oft nur ein paar Schlückchen nahm, um das Zittern seiner Hände mitten im Schreibprozess zu stabilisieren. Obwohl in Finnland ein Prohibitionsgesetz in Kraft war, bekam Sibelius von einem ihm bekannten Arzt Alkohol als rezeptpflichtiges Medikament. Unter den Medikamentenquittungen sind solche für Sprit zu finden, aber auch für Medikamentenkognak und Medikamentenwein, wie auch solche für Qualitätsmarken, die die Apotheken gelegentlich auftreiben konnten.

„Mein Leben ist allerdings am Ende. Wenn ich manchmal fröhlich bin und ein Glas trinke, muss ich nachher lange daran leiden“, schrieb Sibelius am 3. Oktober. Einen Monat später war das Leben – so das Tagebuch – jedoch wieder „reich und tief“. Die Arbeit machte wieder Spaß und die Stiftung „Kordelin“ verlieh ihm einen Ehrenpreis im Wert von heute 25 000 Euro.

Jean Sibelius im Jahr 1923

Sibelius' Popularität nahm auch in den Vereinigten Staaten schnell zu. Der Dirigent Pierre Monteux hatte mit der Symphonie Nr. 5 großen Erfolg in Boston und Paul Cherkassky, der zum Bostoner Symphonieorchester übergewechselt war, schrieb im selben Jahr an Robert Kajanus, dass auch die Symphonie Nr. 1 und das von Paul als Zugabe gespielte Werk Berceuse dem Publikum gefallen hätten. Cherkassky erwähnte, dass Boston als nächsten Dirigenten schon Serge Koussevitzky gewählt hätte, der später einer der großen Interpreten von Sibelius gerade in Boston wurde.

Den Anfang des Jahres 1924 widmete Sibelius seiner Symphonie Nr. 7 und dem Alkohol. Er stimulierte sich mit Whisky und nach dem Zeugnis der Quittungen auch mit Sprit, im Prinzip entsprechend den Anordnungen des Arztes. „Alkohol um die Nerven und das Gemüt zu betäuben. Wie unendlich tragisch ist das Schicksal eines alternden Komponisten. Die Arbeit verläuft nicht mehr im gleichen Tempo wie früher und die Selbstkritik steigt ins Unmögliche“, schrieb er am 6. Januar in sein Tagebuch.

Aino Sibelius erinnerte sich an die schwierigen Zeiten, als ihr Gatte während der Jahre 1903–1904 sich am Rande des Alkoholismus befand. Anfang 1924 waren alle Warnungen umsonst. Letzten Endes schrieb Aino ihm ein Brieflein, in dem sie sich weigerte ihrem Mann auf die Konzertreisen zu folgen, weil sie es nicht ertragen könnte, ihn im betrunkenen Zustand dirigieren zu sehen. Sie konnte auch Kompositionsarbeit mit „künstlicher Inspiration“, d. h. mit Hilfe von Alkohol, nicht verstehen.

„Wenn du dich nicht änderst, bist du dem Untergang geweiht“, schrieb Aino. „Du musst versuchen, von dem loszukommen, was dich da nach unten zieht. Hast du nicht bemerkt, wohin dieser Weg führt. Auch wenn du irgendeine Komposition fertig bekommst, ist sie nicht das, was sie sein könnte“.

Obwohl der Ausbruch berechtigt war, hatte Aino Sibelius nur teilweise recht. Sibelius war fähig, eine Komposition fertig zu bekommen, die der Höhepunkt seiner Komponistenkarriere war. Die Symphonie Nr. 7 wurde im März fertiggestellt und Alkohol hatte anscheinend seine Hände so stabilisiert, dass er in der Lage war, das Werk auf Notenpapier zu schreiben. Die eigentliche Kopfarbeit hatte natürlich, dem Endergebnis nach, ohne Alkohol stattgefunden.

Sibelius dirigierte Ende März die Uraufführung seiner Symphonie, die damals noch Fantasia sinfonica I hieß, in Stockholm. Eisgang auf der Ostsee verzögerte die Überfahrt, so dass im ersten Konzert das Violinconcerto ohne Proben aufgeführt werden musste. Julius Rutström war Solist, und die schwierige Situation verursachte Sibelius später noch Alpträume. Die Uraufführung der Symphonie kam dennoch sehr gut an.

Im Sommer lernte Sibelius den Freund und späteren Ehemann von Margareta, Jussi Blomstedt (später Jalas) und den Pianisten Martti Similä kennen. Beide entwickelten sich zu Dirigenten und sie wurden Sibelius' musikalische Vertrauenspersonen. Er konnte jetzt in die autoritäre Rolle eines alten Komponisten schlüpfen, die er in den kommenden Jahrzehnten zu einer vollkommenen Mischung von Autorität und warmherziger Gastfreundlichkeit weiterentwickelte.

Im August 1924 hörte Sibelius vom Tod des Ferruccio Busoni. Als Gegengewicht zu der traurigen Nachricht durfte er am 30. August die Hochzeit seiner Tochter feiern; die 21-jährige Katarina heiratete den 37-jährigen Juristen Eero Ilves. Er machte Karriere als Bankmanager und kümmerte sich bis in die 1940er Jahre auch um Sibelius' Geld- und Steuersachen. „Die Hochzeit von Kaj war wunderschön. Alle zufrieden“, schrieb Sibelius am 5. September in sein Tagebuch. In diesen Tagen wurde Heidi in Helsinki eingeschult, so dass von nun an keine der Töchter wochentags in Ainola wohnte.

Sibelius reiste am 23. September allein nach Kopenhagen, um seine Werke zu dirigieren. Vom Hotel d'Angleterre schrieb er zärtliche Liebesbriefe an seine Frau, die nicht mehr bereit war, auf die Tourneen mitzufahren. Die Briefe an Adolf Paul klangen anders. „Ich brauche viel Geld. Hier in Kopenhagen trinke ich ausschließlich Champagner“, teilte Sibelius mit. Er traf nach einem Konzert Mitglieder des dänischen Königshauses und erhielt vom Ritterorden „Dannebrog“ das Komturkreuz erster Klasse.

Die Fantasia sinfonica I kam gut an und die Kritiken waren respektvoll. Der zufriedene Sibelius fuhr nach Malmö und gab weitere Konzerte in Kopenhagen. Er füllte den Saal in insgesamt fünf Konzerten, womit er nach der Zeitung „Politiken“ „alle Rekorde übertraf“.

Die Anstrengungen des hektischen Lebens belasteten sein Herz. „Ich muss das Dirigieren aufgeben, denn um meine Nerven zu beruhigen, muss ich heutzutage übertreiben, was auch der Arzt sehr gut wusste“, schrieb er am 9. Oktober an Aino.

Der Rest des Jahres verging mit dem Komponieren kleinerer Stücke und mit dem Erneuern seiner Wechsel. Schenkt man seinem Tagebuch Glauben, war Alkohol jetzt Sibelius' einziger Freund.

Anfang des Jahres 1925 fuhr Sibelius oft in die Restaurants nach Helsinki, denn die Arbeiten kamen nicht recht voran. Sibelius lebte in einer Krisenphase, aber die Tiefe der Krise sollte nicht dramatisiert werden. Seine Lebensweise stand auf einer gesünderen Basis als die des Dichters Eino Leino, der in der Nachbarschaft wohnte und der sich an den Rand des Abgrunds gesoffen hatte und der schon ein Jahr später starb. Sibelius' Leben in Ainola hielt sich hauptsächlich dank der Gattin und des Familienlebens auf gesundem Boden. So ein Stütznetz hatte der finnische Nationaldichter Eino Leino nicht.

Im Mai nahmen der Verleger Wilhelm Hansen und das dänische königliche Theater abwechselnd in derselben Angelegenheit Kontakt zu Sibelius auf. Sibelius sollte das Theaterstück Der Sturm (Myrsky, Stormen) vertonen. Dieser Auftrag entflammte die Phantasie des Komponisten und er nahm seine letzte und größte Bühnenmusik in Angriff. Die fieberhafte Arbeitsperiode endete mit Herbstanfang, aber die Premiere des Theaterstücks Der Sturm (Myrsky, Stormen) wurde auf März 1926 verschoben und der Komponist bemerkte, dass er sich umsonst abgehetzt hatte.

Ende des Jahres komponierte Sibelius Bagatellen und war wegen der Feiern zu seinem sechzigsten Geburtstag nervös, die sich zu einem nationalen Festtag gestalteten. Sibelius selber versuchte den Feierlichkeiten zu entkommen. Er feierte seinen Geburtstag zu Hause bei seiner Tochter Eva Paloheimo in Helsinki und lehnte alle öffentlichen Auftritte ab.

Die Geburtstagsgeschenke halfen Sibelius, seinen wirtschaftlichen Engpass endgültig zu überwinden. Eine landesweite öffentliche Sammlung erbrachte die enorme Summe von 275 000 Mark, d. h. über 65 000 Gegenwartseuro, von welcher dem Komponisten über die Hälfte zur freien Disposition zur Verfügung gestellt wurde. Seine Künstlerrente wurde von 30 000 auf 100 000 seinerzeitige Mark, auf etwa 24 000 Gegenwartseuro, pro Jahr erhöht. Ein nicht unbedeutendes Geburtstagsgeschenk war auch die Erweiterung des Grundstücks von Ainola um beinahe ein Hektar. Für dieses Geschenk zeichneten die gemischten Chöre Finnlands verantwortlich.

Auch der Urheberrechtsschutz hatte sich weiter entwickelt und Sibelius hatte angefangen, von der deutschen Urheberrechtsorganisation GEMA jährlich schon passable Tantiemen für die Aufführung seiner Werke zu bekommen. Nachdem die Inflation auch noch einen großen Teil der alten Schulden erledigt hatte, verbesserte sich die finanzielle Lage des Komponisten wesentlich.

Jubiläumskonzerte wurden rund um die Welt veranstaltet. Zum Beispiel dirigierte Leopold Stokowski in einem Konzert des Philadelphia Orchesters in New York die Symphonie Nr. 1. Olin Downes von „New York Times“ war begeistert von dem finnischen Komponisten und hielt in seinem langen Bericht die Orchester an, mehr  Musik von Sibelius zu spielen.

Anfang des Jahres 1926 gab der Dirigent Walter Damrosch aus New York Sibelius eine 15–20 Minuten lange symphonische Dichtung in Auftrag. Sibelius stimmte zu und nahm die Kompositionsarbeiten zum Werk Tapiola in Angriff. Sibelius entschied sich Ende März unter Zuhilfenahme der Geburtstagsspenden allein nach Rom zu reisen, um Tapiola fertig zu komponieren.

Jean Sibelius in Capri, 1926

Neben den Arbeiten machte er zusammen mit seinem Freund Walter von Konow auch Urlaub in Capri. Er bekam Tapiola gut in Griff und der zufriedene Komponist kehrte nach Hause zurück, um seine Arbeit fortzusetzen und gleichzeitig die Renovierung von Ainola zu überwachen. Im Sommer wurde zum Beispiel die Sauna erneuert und das Tor wurde auf die neue Grenze des erweiterten Grundstücks versetzt, wo es heute noch steht. Endlich überstieg der Eigentumswert die Schulden, so dass das Ehepaar einen Grund hatte, ein gegenseitiges Testament aufzusetzen. Das Testament wurde am 19. Juli bestätigt.

Im Sommer vollendete Sibelius Wäinämöinens Gesang (Väinön virsi) für das Sängerfest in Sortavala. Sibelius fluchte in seinem Tagebuch auf die „Auftragsarbeiten“, aber vollendete im Lauf des Herbstes auch Tapiola. Allerdings zog er das vollendete Werk noch zur Korrektur zurück, was den Verleger ärgerte. Sogar die Druckplatten mussten erneuert werden.

Im Herbst 1926 trat Sibelius zum letzten Mal als Dirigent außerhalb Finnlands auf. Er dirigierte wieder in Kopenhagen, aber die Aufnahme der Symphonie Nr. 5 war ziemlich lahm und er war zutiefst beleidigt. Finlandia sowie Valse triste am Ende des Konzerts bezauberten jedoch das Publikum. Die Rezensionen waren hautsächlich wohlwollend und nach der Heimkehr machte Sibelius schnell die letzten Korrekturen im Manuskript von Tapiola. Damrosch erhielt die Partitur im November, so dass er vor der Uraufführung des Werkes ausreichend Zeit hatte.

Am 2. Dezember nahm Sibelius an den Feiern zum 70. Geburtstag von Robert Kajanus teil. Die Drei aus dem Kern des Symposion-Zirkels wunderten sich über ihre durchfurchten Gesichter und über den Haarausfall. Gallen-Kallela und Kajanus gedachten in ihren Festreden nostalgisch ihres Lebens in den 1890er Jahren.

Der 70-jährige Robert Kajanus hält seine Geburtstagsrede. Dezember 1926.

Am Jahresende freute Sibelius sich über die guten Rezensionen seiner Werke in Zeitungen in London und Boston. Am Stephanitag kam allerdings ein kleiner Rückschlag, als Damrosch Tapiola in New York uraufführte. Sogar der eifrige Sibelius-Anhänger Olin Downes von der „New York Times“ war verwundert, obgleich er das Werk anerkennend rezensierte. Noch weniger verstand Lawrence Gilman von „New York Herald Tribune” das Werk Tapiola.

Anfang 1927 vollendete Sibelius endlich die schon längst versprochene Ritualmusik für die Freimaurer. Die Uraufführung war am 12. Januar. Sibelius händigte der Loge Finnlands das Manuskript zur internen Verwendung aus und auch andere Logen in Finnland waren berechtigt, die Musik in ihren Sitzungen zu benutzen. Die Ritualmusik bestand zu dieser Zeit aus acht Teilen und der Komponist vervollständigte sie später.

Ende Januar reiste Sibelius mit Aino nach Paris, um neueste Musik zu hören. Auch die letzten Schulden waren jetzt abbezahlt, so dass der Komponist zum ersten Mal reisen konnte, ohne sich Sorgen um die Schuldenlast machen zu müssen. „Jetzt ist finanziell alles in Ordnung und ich kann mich konzentrieren, worauf ich will. Ist das nicht herrlich”, schrieb der Komponist.

Nach der Reise nach Paris „vergrub“ sich der Komponist in Ainola und die Gattin warf ihm vor, dass er keinen Kontakt zu seinen Freunden pflegte. „Die Einsamkeit macht mich wahnsinnig.  Nicht einmal meine Frau spricht jetzt mit mir“, schrieb Sibelius etwas unberechtigt in sein Tagebuch. „Um überhaupt leben zu können, muss ich Alkohol einnehmen. Wein oder Whisky! Daher jetzt dies alles. Beschimpft, einsam, alle meine wirklichen Freunde sind tot. Unfähig zu arbeiten. Wenn ich nur eine Lösung finden könnte“, schrieb er am 8. Mai pathetisch in sein Tagebuch. Nur zwei Tage später spielte er dennoch vierhändig Klavier mit seiner Frau und arbeitete mit viel Elan an den Orchestersuiten der Bühnenmusik Der Sturm (Myrsky, Stormen)! Aino hatte es nicht leicht mit den stark schwankenden Gemütslagen ihres Gatten. „Der Papa hatte so eine Natur, dass er sich ganz plötzlich beruhigte“, erinnerte sich Margareta später.

Im Sommer 1927 stellte Sibelius die Orchestersuiten der Bühnenmusik Der Sturm (Myrsky, Stormen) etwas lustlos fertig. „Die Suiten der Bühnenmusik plagen mich noch zu Tode. Es fühlt sich an, wie Hausaufgaben noch einmal machen zu müssen“, schrieb Sibelius am 17. Mai.

Im Sommer schrieb Sibelius auch die erschütterndsten Seiten seines Tagebuchs. Die Aufzeichnungen waren kurz und ihre Bedeutung war eindeutig: Sibelius hatte beschlossen, Alkohol aus seinen Eingeweiden zu verscheuchen. Er stand am Rande des Alkoholismus und jeder Tag war ein Kampf gegen den gefährlichen Stoff. Die Aufzeichnungen S. A. (sine alcohol = ohne Alkohol) in seinem Tagebuch sind gelegentlich durch Einträge wie „ein Whisky“ oder „Sauferei, den ganzen Tag“ unterbrochen.

Auszug aus dem Tagebuch, Juni 1927

Während des Sommers endete der Kampf jedoch mit einem ausreichend deutlichen Sieg. Sibelius fing nicht an, abstinent zu leben, aber es gelang ihm, seine Trinkgewohnheiten bedeutend zu verbessern und damit seine Gesundheit zu retten. Am 22. Juni konnte er feststellen: „Mein Alkoholkonsum ist sehr moderat“ und im August schickte er eine zweite Suite der Bühnenmusik Der Sturm (Myrsky, Stormen) an Hansen. So hatte er das letzte bedeutende neue Orchesterwerk fertig bekommen, das er jemals an einen Verleger schicken konnte.

Es ist interessant, dass das finnische Parlament Anfang desselben Monats August einem neuen Urheberrecht zustimmte, durch das auch immaterielle Güter besser geschützt waren. Nachdem das geschehen war, konnte Finnland 1928 auch den Berner Vertrag ratifizieren. So konnte auch Sibelius wirksamer als früher Urheberrechtsvergütungen für die Aufführung seiner Werke bekommen. Hiermit begann eine Entwicklung, die aus ihm einen wohlhabenden Mann machte. Zugleich war er nicht mehr in der Lage, solche Großwerke zu komponieren, die man an Verleger hätte schicken können. Böse Zungen könnten behaupten, dass finanzieller Druck dem Komponisten zu neuen Meisterwerken verholfen hätte.

Anfang September 1927 konnte Sibelius diese Entwicklung natürlich noch nicht ahnen. Er war schon am Planen eines neuen Werkes, wahrscheinlich der Symphonie Nr. 8.