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Der Tod der Tochter und der internationale Durchbruch 1900–1902

Die jüngste Tochter Kirsti der Familie Sibelius, zu der damals drei Kinder zählten, starb am 13. Februar an Typhus. Aino Sibelius fiel in eine tiefe Depression und die Qualität des Alkoholkonsums von Jean Sibelius veränderte sich vom lebenslustigen Feiern des Jugendalters zu einem gefährlicheren Hobby. Seine Arbeit störte es jedoch noch nicht.

Die schnell komponierte Fantasie für Cello und Klavier bringt die melancholische Stimmung zum Ausdruck. Ihr wurde später der Name Malinconia gegeben. Auch Sandels, das beim Kompositionswettbewerb des Chors „Muntra Musikanter“ ausgezeichnet wurde, blieb eine Zwischenarbeit. Oskar Merikanto schrieb nach der Uraufführung frank und frei, dass „wir dieses Werk jedoch bei weitem nicht zu den besten Werken von Sibelius zählen“.

Die Hauptarbeit im Frühling war die Überarbeitung der Symphonie Nr. 1 noch vor der Tournee von Kajanus' Orchester und den Aufführungen auf der Pariser Weltausstellung. Sowohl Sibelius als auch Kajanus erhielten im Laufe des Frühlings brieflich gute Anweisungen von einem geheimnisvollen Pseudonym „Musikfreund“. Es handelte sich um den anspruchslosen Baron Axel Carpelan, der bald einer der bedeutendsten Freunde und Unterstützer von Sibelius wurde.

Sibelius fuhr als wichtiger Komponist auf die Gastspielreise mit, trotzdem erlaubte ihm Kajanus nicht, Konzerte zu dirigieren. Das Hauptgewicht des Programms lag auf den Orchesterwerken von Sibelius: Es wurden die Symphonie Nr. 1 und Finlandia sowie im Rahmen eines zweiten Programms Lemminkäinen zieht heimwärts (Lemminkäisen kotiinpaluu), Der Schwan von Tuonela (Tuonelan joutsen) und Teile der Suite König Kristian II (Kuningas Kristian II) gespielt. Darüber hinaus wurden u. a. Werke von Kajanus und Armas Järnefelt sowie Arrangements von Volksliedern gespielt.

Robert Kajanus übte mit seinem Orchester in einer Feuerwache vor der Abreise auf die Tournee 1900.

Das Orchester spielte in dreizehn Städten insgesamt 19 Konzerte, und die ausgedehnte Tournee bedeutete für Sibelius den Anfang des internationalen Durchbruchs.

Zum Beispiel lobten die schwedischen Kritiker die Symphonie Nr. 1 „als sehr bedeutungsvoll“ und Charles Kjeruf von der Zeitung „Politiken“ in Kopenhagen pries „die unverschämt mutige und durch und durch unabhängige Musik“. Ferdinand Pfol von „Hamburger Nachrichten“ schrieb von einem „Respekt einflößenden Künstler, dessen Fantasie Adlerschwingen hat“.

Berlin war der wichtigste Schauplatz der Tournee und die Kritik in seiner ehemaligen Studienstadt zeigte Interesse an ihm. Otto Taubman vom „Berliner Börsen-Courier“ genoss die „neue und ungewöhnliche“ Tonsprache und freute sich über die „stürmische“ Begeisterung des zahlreich erschienenen Publikums. Nach dem „Berliner Fremdenblatt“ war er ein verheißungsvolles Talent, das seine elegischen und pathetischen Gefühle spürbar zum Ausdruck brachte, aber das in seinen leidenschaftlichen Ausbrüchen zu weit ging. Der Kritiker des „Berliner Lokal Anzeigers“ bezeichnete Sibelius als „ein hervorragendes und aussichtsreiches Talent“.

Die Konzerte in Berlin bedeuteten Sibelius' Durchbruch in den Kritikerkreisen Deutschlands. Danach war es leichter, den etwas genügsameren Erfolg in Paris zu ertragen. Die einflussreichsten französischen Kritiker waren nach der Konzertsaison schon auf Sommerurlaub.

Sibelius kehrte zufrieden nach Hause zurück. Zu Hause in Kerava aber trat das traurige Schicksal der Tochter Kirsti schnell wieder in sein Bewusstsein. Sibelius akzeptierte dankbar das von Axel Carpelan finanzierte Reiseangebot. Carpelan war der Ansicht, dass Sibelius die klassische Leichtigkeit der Kulturen des Mittelmeerraumes für seinen Ausdruck benötigte. Er gab dem Komponisten die erhebliche Summe von 5 000 Mark bzw. ca. 17 000 Euro in heutigem Geld für eine Italien-Reise. Sibelius tilgte mit dem Geld einen Teil seiner Schulden, bevor er seine Reise antrat.

Die Familie fuhr Ende Oktober nach Berlin ab und blieb monatelang, bis Ende Januar 1901, dort. Carpelan beunruhigte sich: Sibelius hätte doch nach Italien fahren müssen! Dazu kam die Sorge um die Dezimierung der Reisekasse. Sibelius brachte seine Familie in die teuersten Hotels und Restaurants und die 17 000 Gegenwartseuro waren bis Januar aufgebraucht. Aino Sibelius war über die Verschwendung erschüttert, wie sie in ihrem Notizbuch schrieb.

Sibelius lieh sich in Finnland zusätzliche Reisemittel aus und die Familie reiste zu guter Letzt nach Italien, nach Rapallo an der Mittelmeerküste. In Rapallo bekam Sibelius Ideen für den langsamen Satz seiner Symphonie Nr. 2 und schrieb neben den Skizzen zu dieser den Don Juan, in dem es um die Begegnung der Hauptfigur in der Oper Don Giovanni von Mozart mit dem Tod geht. Die Tochter Ruth erkrankte jedoch in Rapallo schwer und die Familie wurde von Angst vor dem Tod der zweiten Tochter erfasst. Letztendlich überlebte Ruth die Bauchfellentzündung und das auf über 40 Grad gestiegene Fieber. Der Komponist verließ die sich erholende Familie und reiste allein nach Rom. Sein Skizzenbuch quoll über von Themen, die für mehrere Jahre reichen sollten: In Rom entstanden Knospen zu solchen Werken wie zum Beispiel Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär) sowie Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang (Öinen ratsastus ja auringonnousu).

Sibelius kehrte aus Rom zurück und brachte seine Familie nach Florenz, um die Kunstwerke der Uffici-Galerie zu bewundern. Sie kehrten im Mai nach Hause zurück und da wartete schon eine neue Reise auf Sibelius. Er hatte eine Einladung erhalten, seine Musik auf den Musikfestspielen des Allgemeinen Deutschen Musikvereins im Juni in Heidelberg zu dirigieren. Auf dem Programm standen die kürzlich gedruckten Werke Der Schwan von Tuonela (Tuonelan joutsen) und Lemminkäinen zieht heimwärts (Lemminkäisen kotiinpaluu).

Die Sibelius-Sympathien der deutschen Musikwelt wurden durch das Konzert bekräftigt. Das „Berliner Tageblatt“ hielt Den Schwan von Tuonela (Tuonelan joutsen) für „eine zart erfasste Farbenskizze”. Über Lemminkäinen zieht heimwärts (Lemminkäisen kotiinpaluu) wurde geschrieben: „Die Klangeffekte des Werkes sind überraschend, sogar genial und auch seine Gestaltung ist prima gelungen“.

Der Erfolg hob auch die Nachfrage nach den Partituren an. In der folgenden Saison führte Weingartner dieselben Werke in Berlin auf und Henry Wood dirigierte die Musik von König Kristian II (Kuningas Kristian II) in London. Auch die anderen Kapellmeister fügten Sibelius' Kompositionen ihrem Repertoire bei.

Der Herbst verging mit dem Komponieren der Symphonie Nr. 2, wie auch der Anfang des Jahres 1902. Die Uraufführung am 8. März in Helsinki war einer der vollkommensten Triumphe in der Laufbahn des Jean Sibelius. Die heroische Symphonie Nr. 2 begeisterte das in den Unterdrückungsjahren niedergeschlagene Volk, das das Werk als patriotisch interpretierte.

Nach Ansicht von Oskar Merikanto von „Päivälehti“ übertraf die Komposition als Meisterwerk „auch die höchsten Erwartungen“. Evert Katila von der Tageszeitung „Uusi Suometar“ verglich die Symphonie mit einem gewaltigen Strom, der dem Schoss des Meeres majestätisch zufließe. Nach der Ansicht von Karl Flodin ging es um „ein absolutes Meisterwerk, eine von den seltenen symphonischen Schöpfungen, die in die gleiche Richtung zeigen, wie Beethovens Symphonien“.

Sibelius komponierte im April für die Einweihung des Nationaltheaters das Stück Der Ursprung des Feuers (Tulen synty). Das Werk für Bariton, Chor und Orchester dauerte knappe 10 Minuten und war ein Beweis dafür, dass Sibelius' Interesse für das Kalevala weiterhin anhielt. Auch dieser Text konnte wieder allegorisch gedeutet werden: Die Finnen waren dabei, im Zentrum der von der russischen Unterdrückung verursachten Dunkelheit, ein Feuer anzuzünden.

Die Uraufführung am 9. April 1902 ging im übermäßig langen Programm unter. Zum Beispiel veröffentlichte „Päivälehti“ den Text des Werkes am nächsten Tag, aber statt einer Rezension wurde nur festgestellt, dass „die Komposition großartig ist und auch ihre Wirkung auf das Publikum genauso mächtig war“. Sibelius verstand den Wert des Werkes und arbeitete es acht Jahre später um.

Den Sommer verbrachte Sibelius bei seinem Bruder in Berlin und in Tvärminne, in der Nähe von Hanko. Er arbeitete in Tvärminne zum Beispiel an dem Lied War es ein Traum (Var det en dröm) und an der neuen Version des Werkes Eine Sage (Satu). Im Herbst änderte sich der Lebensstil des Komponisten, weil die Familie sich traute, Kerava zu verlassen und wieder nach Helsinki umzuziehen.

Sibelius dirigierte im November 1902 in Berlin die neue Version von Eine Sage (Satu) auf Einladung von Ferruccio Busoni in einem Konzert der Berliner Philharmoniker. Das Konzert kam ausgezeichnet an und die meisten Kritiker lobten das Werk. Dadurch war Sibelius' Durchbruch in Deutschland besiegelt. Auch die Symphonie Nr. 1 wurde gedruckt und Emil Krause rühmte das Werk im „Hamburger Fremdenblatt“.

Sibelius war jedoch nahe daran, in eine Krise zu geraten. Der Umzug von Kerava in das Zentrum von Helsinki brachte ihn wieder in die Reichweite von Alkoholexzessen und Ausschweifungen.