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Kullervo und die Hochzeit 1891–1892

Sibelius traf seine Verlobte im Sommer 1891 in Tottisalmi in der Nähe von Vaasa in Järnefelts Sommerhaus wieder. Von Hochzeit konnte jedoch keine Rede sein, weil der Bräutigam mittellos und ohne Beruf war. Sibelius zog sich nach Loviisa unter die Fürsorge der Tante Evelina zurück, um an Kullervo zu arbeiten und verdiente Taschengeld mit Privatunterricht in Musik.



Jean Sibelius' Annonce für Privatstunden in Musik

Am 24. November trat Sibelius zum ersten Mal als Kapellmeister auf. Er dirigierte Die Ouvertüre (Alkusoitto) und Die Balletszene (Balettikohtaus) in einem Populärkonzert in Helsinki. „Das Dirigieren war fantastisch. Ich war überhaupt nicht nervös. Ich fühlte mich nur einen Kopf größer“, schrieb Sibelius an Paul. „Wenn nur die Kompositionen nicht solcher Dreck gewesen wären“, fügte er hinzu.

Gegen Anfang Dezember machte Sibelius einen Abstecher nach Porvoo, um der 57-jährigen Runensängerin Larin Paraske zuzuhören, die sich im Haus des Pfarrers Adolf Neovius aufhielt. Larin Paraske alias Paraskovia Mikitiina (1833-1903) war zu ihrer Zeit eine Attraktion, eine Runensängerin aus Ingermanland. Ca. 32 000 ihrer Verse waren aufgezeichnet worden. Sibelius gestand später einen Einfluss von Larin Paraske auf Kullervo nicht ein.

Am Jahresende wuchs der Ruf von Sibelius, als Adolf Paul in seinem Erstlingsroman Ein Buch über einen Menschen (En bok om en människa) die Veranlagung einer der Hauptpersonen zu einem beschwingten Leben, zum genialen Komponieren und zur Selbstgefälligkeit schilderte. Diese Eigenschaften kamen auch bei Sibelius zum Vorschein, als er Ende Januar nach Helsinki in eine Wohnung im Kurbad Ullanlinna in Kaivopusto umzog.

Sibelius lernte Robert Kajanus näher kennen und feierte lebenslustig mit seinen neuen Freunden. Während des Frühlings bewies Sibelius jedoch auch, dass er hart arbeiten konnte. Das Komponieren von Kullervo nahm letztendlich sowohl die Tage als auch die Nächte in Anspruch.

Das riesige, 5-teilige Werk für Orchester, Männerchor sowie für Sopransolistinnen und Baritonsolisten, wurde im April fertig. Das Komponieren des Werkes hatte ein Jahr in Anspruch genommen. In den Proben zu Kullervo war der Chor begeistert, und das zum größten Teil mit deutschen Musikern ergänzte Orchester amüsierte sich sogar über die eifrige Direktorengestik des Komponisten und über die neuartige Partitur. Sibelius erwies sich als geschickter Organisator, wenn er sich um die praktischen Sachen kümmerte: die Saalmiete für das Konzert, die Annoncen, die Programmhefte und um Ähnliches.

Leute des Zirkels um „Päivälehti“ und andere Fennomanen (Anhänger der finnischen Sprache und Kultur) kamen, um das Kalevala-Werk in finnischer Sprache zu hören. Das Konzert dauerte über eine Stunde und danach applaudierte das Publikum, auch wenn nicht alle das Werk verstanden hatten.  Robert Kajanus hatte schon im Voraus für Sibelius einen Kranz bestellt, an dem folgende Worte (ein Vers aus dem Kalevala) zu lesen waren: „Damit ist der Weg geebnet, ist die Bahn abgesteckt“ (Kalevala, übersetzt von Gisbert Jänicke, 2004) (Siitäpä nyt tie menevi, ura uusi urkenevi“. Bedingt durch Kajanus' Renommee wurde der Applaus lauter und die Uraufführung wurde letztendlich als Erfolg gewertet.

Die Meinungen der Kritiker waren gespalten: Oskar Merikanto von „Päivälehti“ hielt das Werk für die vorläufig eindrucksvollste finnische Komposition, aber schwedischsprachige Kritiker brachten auch Vorbehalte zum Ausdruck. Nach Aino Sibelius' Aussage war es Kullervos Erfolg, der ihre Eltern dazu bewegte, ihre Einwilligung zu Ainos und Jannes Hochzeit zu geben. Dazu trug auch bei, dass Sibelius die Zusage erhalten hatte, sowohl am Musikinstitut als auch an der Orchesterschule Kajanus' als Lehrer arbeiten zu dürfen.



Aino Sibelius 1895.

Die Hochzeit fand am 10. Juni 1892 in Järnefelts' Sommerhaus in Tottisalmi statt. Nach der Hochzeit verbrachte das jungverheiratete Paar seine Flitterwochen im Haus Monola nahe Lieksa. Neben all den Liebkosungen der Neuverheirateten arbeitete Sibelius an seinem Werk Eine Sage (Satu) und überarbeitete die Lieder Unter Ufertannen (Under strandens granar), Kusses Hoffnung (Kyssens hopp) und An Frigga (Till Frigga) zu Versen von Runeberg.

Sibelius konnte sich die Hochzeitsreise leisten, weil er von der Universität ein Reisestipendium erhalten hatte, um in Karelien das Kantelespielen und die Runenlieder zu studieren. Sibelius reiste also nach den Flitterwochen in Monola tiefer nach Karelien und Aino brach zu ihren Verwandten nach Kuopio auf.

Auf seiner Reise hörte Sibelius zum Beispiel Mikko Tolvanen, Stepnaii Kokkonen, Mikhail Wornanen sowie Pedri Shemeikka singen. Shemeikka machte auf ihn den größten Eindruck. Sibelius vermutete in seinem Stipendiumsbericht, dass die von Shemeikka gesungene Melodie die älteste und echteste Melodie der finnischen Volksdichtung sei, mit der er sich auf seiner Reise vertraut machen konnte. Die Runenmelodie von Shemeikka setzt sich aus sechs Wechselgesängen in 5/4 Takt zusammen und Sibelius gebrauchte sie später unverändert in der ersten Szene seiner Karelia-Bühnenmusik.

Mitte August kam Sibelius nach Kuopio und bekam – nach seinen Erinnerungen – Stimmungsbilder und Anregungen zu seinem Werk Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang (Öinen ratsastus ja auringonnousu), das er aber erst im Jahr 1908 komponierte.