Sibelius'
Kampf mit der achten Symphonie ist legendär. Der Kampf dauerte
jahrelang und endete allem Anschein nach „mit einer tragischen
Vernichtung“ in Ainola, wo er, spätestens im Jahr 1945,
entweder ein fast fertig skizziertes Werk oder sogar ein ganz und
gar vollendetes Werk verbrannte.
Der
Kampf fing Anfang Februar 1928 an, als der Komponist nach Berlin
reiste, um „neue Werke“ zu komponieren, vermutlich seine achte
Symphonie. „Mein Werk wird fantastisch. Seine Vollendung scheint
nur sehr viel Zeit in Anspruch zu nehmen. Aber ich habe es jetzt
doch nicht eilig“, schrieb er an seine Gattin.
Aino
Sibelius dachte zur selben Zeit an die Veränderung, die in der
Natur des Komponisten stattgefunden hatte. „Es hat ihm sicher
gut getan, für eine Weile weg zu sein. Er ist heutzutage fast
immer zu Hause und fährt sehr selten in die Stadt. Aus ihm ist
ein richtiger Einsiedler geworden. Stell dir das vor! Janne, der
früher immer so gesellig war“, schrieb Aino.
Im
Sommer 1928 meinte Sibelius in einem Zeitungsinterview munter,
dass seine Entwicklung noch nicht zu Ende wäre. Er überlegte
eine Zeit lang – auf Anregung des Tenors Wäinö Sola – eine
Symphonie über den berühmten Wasserfall in Imatra zu komponieren,
aber der versprochene Kompositionsauftrag ging nie ein. Sibelius
setzte dann die Kompositionsarbeiten an der achten Symphonie fort.
„Ich arbeite an einem neuen Werk, das nach Amerika geschickt
wird. Es wird aber noch eine Weile dauern. Aber es wird schon
werden“, schrieb er am 7. September an seine Schwester. Während
des ganzen Jahres vollendete er nur das kleine Chorwerk Der Brückenwächter
(Siltavahti).
Während
des Jahres 1929 lehnte Sibelius gelassen gut bezahlte Aufführungsangebote
ab. Da Sibelius nicht ins Ausland reisen wollte, kamen Personen,
die sich für Musik interessierten, nach Finnland, um ihn zu
treffen. Er empfing zum Beispiel Cecil Gray, der später ein
bedeutendes Buch über seine Symphonien schrieb. „Die finnische
Gastfreundschaft war ein beängstigendes Erlebnis“, erinnerte
sich Gray später. „Das Mittagessen schmolz unauffällig mit dem
Abendessen zusammen und das Abendessen mit dem Mittagessen “.
1929
komponierte Sibelius noch Opus 115 für Violine und Klavier,
fünf Skizzen zu Opus 114 für Klavier und eine Suite für
Violine und Orchester. Er dachte der Suite die Opusnummer 117 zu
geben, aber da der erste Verleger nicht interessiert war,
beschloss er letzten Endes sie nicht zu veröffentlichen. Die
Suite wurde erst in den 1980er Jahren veröffentlicht. 1929 war
das letzte Jahr, in dem Sibelius seinen Verlegern mehrere neue
Werke anbot.
Sibelius
war immer seltener in der Öffentlichkeit zu sehen. Die stark
antikommunistische Lapua-Bewegung interessierte ihn in ihrer
Anfangsphase und er verfolgte, als Teilnehmer an einer
Festveranstaltung, den Marsch der Bauern nach Helsinki. Sibelius
entfremdete sich später der Bewegung, die sich zu sehr
radikalisiert hatte und begonnen hatte, gewalttätige „Abschiebungen“
von einflussreichen Personen, die für politisch zu weit links
stehend angesehen wurden, zu betreiben. In seiner Produktion ist
das einzige Zeichen seines Interesses für diese
Bewegung Kareliens Schicksal (Karjalan osa) für Männerchor
und Klavier. Es war das einzige vollendete Werk im Jahr 1930.
Jean
Sibelius in den 1930er Jahren in Ainola
Der
Saldo des Jahres 1931 ist die liebevolle, vierhändig zu spielende,
unveröffentlicht gebliebene Komposition An meine geliebte Aino
(Rakkaalle Ainolleni) – ein Geschenk an die Gattin zu deren 60.
Geburtstag – sowie das Stück Trauermusik (Surusoitto) für
Orgel, das Sibelius für die Beisetzung von Akseli Gallen-Kallela
komponierte. Die asketische Stimmung und der überraschend modern
wirkende Ausdruck der Komposition kündeten noch eine Stiländerung
an.
Auch
die Arbeiten an der achten Symphonie kamen während des
Jahres 1931 gut voran. Sibelius komponierte im Mai in Berlin an
ihr und seine Arbeitsmotivation war gut. „Die Symphonie macht
große Fortschritte“, schrieb er.
Die Arbeitsphase wurde durch eine Krankheit unterbrochen,
die als Lungenfellentzündung diagnostisiert wurde. Professor
Zuelzer injizierte Sibelius versuchsweise das Medikament Eutoton
und der Zustand des Patienten verschlechterte sich und er war nahe
daran zu sterben. Nach Abbruch des Behandlungsexperiments ging es
Sibelius sofort besser, aber die Freude am Komponieren war
verflogen.
Mitte
Juni kehrte Sibelius von seiner letzten Auslandsreise nach Hause
zurück. Die achte Symphonie war immer noch unvollendet,
aber im August schrieb der Komponist an Serge Koussevitzky, dass
er das Werk bis Frühling 1932 fertig zu bekommen glaube. Gegen
Ende des Jahres schien das Werk auch Fortschritte zu machen. „Ich
schreibe an meiner achten Symphonie und bin voll von Jugend. Wie
kann man das erklären?“ wunderte sich Sibelius am 18. Dezember.
Im Januar 1932 schickte Sibelius dennoch schlechte Nachrichten an
Koussevitzky: „Keine Symphonie in dieser Saison“.
Serge
Koussevitzky (1874-1951).
Die
Korrespondenz zwischen Sibelius und dem Dirigenten war rege und
interessant. Im Sommer 1932 war die Symphonie wohl schon nahe
ihrer Fertigstellung gewesen, denn Sibelius schrieb Anfang Juni an
Koussevitzky, dass er hoffte, dass dieser Ende Oktober das Werk
dirigieren könnte. Im Juli teilte er dem Dirigenten jedoch mit,
dass es gar nicht sicher sei, dass das Werk bis Oktober fertig
sein würde, „denn es hat allerlei Unterbrechungen in meiner
Arbeit gegeben“.
In
demselben Sommer fanden im Management des Stadtorchesters Helsinki
Änderungen statt. Robert Kajanus hatte seine Stellung mit 28. Mai
aufgegeben, nachdem er das 50-jährige Jubiläumskonzert des
Orchesters dirigiert hatte. Als Nachfolger wurde der Erzfeind von
Kajanus gewählt, der 60-jährige Georg Schnéevoigt.
Der
verbitterte Kajanus verließ sein Orchester im letzten Augenblick:
ein paar Monaten später verursachte ein Fußleiden ihm unerträgliche
Schmerzen und hinderte ihn praktisch daran, sich zu bewegen. Mit
letzter Kraft reiste er noch nach London, um mit dem Londoner
Symphony Orchestra Tapiola,
die Symphonie
Nr. 5, Pohjolas Tochter (Pohjolan tytär),
die Suite Belsazar's
Gastmahl (Belsazars gästabud, Belsazarin pidot) und die Symphonie
Nr. 3 aufzunehmen.
Die
Plattenaufnahmen erregten natürlich viel Aufsehen und auch
Sibelius war mit ihnen ziemlich zufrieden. „Wenn ich über diese
Platten rede, muss ich erwähnen, dass K. (wie auch Toscanini)
beim Dirigieren am genauesten meinen Anweisungen bezüglich der
Tempi gefolgt ist“, äußerte Sibelius später.
Er
hatte auch nichts gegen Schnéevoigt. Schnéevoigt rief ihn Anfang
der Herbstsaison 1932 kurz vor der Pressekonferenz an und Sibelius
versprach ihm die Uraufführung der achten Symphonie in Finnland
schon für die Frühlingssaison 1933. Er erinnerte gleichzeitig
daran, dass die Uraufführung dem Dirigenten Koussevitzky in
Boston versprochen worden war und die europäische Uraufführung
dem Dirigenten Basil Cameron und The Royal Philharmonic Society in
London.
Das
Werk soll im Oktober auch schon beinahe fertig gewesen sein, als
Sibelius an Koussevitzky schrieb, dass er versuchen werde, bis
Dezember zumindest eine handgeschriebene Partitur oder ein paar
Monate später gedrucktes Material zu schicken.
Koussevitzky
dirigierte im
November 1932 Tapiola mit vorzüglichem Erfolg und nahm
eine Konzertserie in Angriff, die alle Symphonien Sibelius'
umfasste.
Er hoffte, dass er die Serie im Frühling 1933 mit der Uraufführung
der achten Symphonie krönen könnte. Der im Dezember 67 Jahre alt
werdende Komponist schlürfte mit Schnéevoigt Kognak und erzählte
von seiner neuen Symphonie. „Du vet inte hur genial det är!“
(Du weißt nicht, wie genial sie ist!), prahlte Sibelius.
Am
17. Januar 1933 überraschte Sibelius jedoch Koussevitzky auf eine
unangenehme Weise: „Es tut mir leid, unmöglich in dieser Saison“.
Ein
Ablieferungstermin nach dem anderen war verstrichen. Die Symphonie,
die schon im Herbst hätte fertig werden sollen, war jetzt noch so
halbfertig, dass der Komponist glaubte, sie nicht einmal bis Mai
vollenden zu können! Hatte der Kompositionsplan sich vollständig
geändert? Hatte Sibelius umfangreiche Teile der Symphonie
verworfen?
Sibelius
resignierte dennoch nicht. In seiner Tagebuchaufzeichnung vom 4.
Mai erwähnt er, die Kompositionsarbeiten machten gute
Fortschritte. „Es ist, als ob ich nach Hause gekommen wäre. In
meiner Kunst. Ich arbeite an dem ersten Satz, d. h. schmiede ihn.
Ich nehme jetzt alles anders auf, tiefer. Ein Zigeuner in meinem
Inneren. Romantisch“.
Im
Sommer 1933 war Sibelius nach wie vor zuversichtlich. Er erzählte
dem Journalisten Bob Davis, dass die achte Symphonie bald fertig
sein würde. „Sie wird ein Bekenntnis meines ganzen Daseins sein
– der achtundsechzig Jahre. Sie wird sicher auch meine letzte
bleiben. Acht Symphonien und hundert Lieder. Das sollte genügen“,
meinte Sibelius.
Eine
Quittung bestätigt, dass die achte Symphonie im Sommer schon in
der Reinschriftphase war. Anfang September schickte Sibelius'
Abschreiber Paul Voigt nämlich dreiundzwanzig Seiten einer
Partitur aus der achten Symphonie an Sibelius, der seine
Zufriedenheit ausdrückte und schrieb: „Eine Fermate sollte am
Ende stehen. Largo setzt sich direkt fort. Das ganze Werk wird
etwa achtmal so lang wie dieser Teil“.
Sibelius
kämpfte weiter mit der Vollendung der achten Symphonie, aber in
diesem Jahr endeten die an die Öffentlichkeit gegebenen,
ermutigenden Aussagen über die rasche Vollendung der Symphonie.